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Kapitel 

VOLKSDICHTUNGEN AUS OBERGUINEA


I. BAND


FABULEIEN DREIER VÖLKER

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 4 BILDBEILAGEN

8. Eisenkugel und Tonkugel

Es war eine große Hungersnot. Nur in einem sehr weit entlegenen Dorfe gab es Essen. Aber über dem Wege dahin flog ein großer Vogel in der Luft, der stieß auf jeden Menschen herab, der den Weg entlang kam, tötete ihn und fraß ihn. Der Vogel hieß Quellu (Plural: Quellin). Der Vogel machte es den Menschen unmöglich, in dem andern Dorfe Essen zu holen. Alle Menschen in dem Lande hungerten.

Endlich ging eine Frau zu einem Schmiede und sagte zu ihm: "Schmiede mir eine eiserne, hohle Kugel, die so groß ist, daß ich darin liegen kann. Auf der einen Seite mache kleine Löcher, durch die ich sehen kann. Auf der andern laß ein großes Loch, durch das ich hineinkriechen kann. Wenn ich dann darin bin, schmiede mir das große Loch zu!" Der Schmied sagte: "Es ist gut!" Er schmiedete die große, hohle Kugel. Die Frau kroch hinein. Dann schmiedete der Schmied sie zu.

Als die Frau in der eisernen Kugel eingeschlossen war, rollte sie in ihr von dannen in der Richtung auf das Dorf, in dem es soviel zu essen gab. Der Vogel Quellu sah die Kugel auf dem Wege dahinrollen. Er stieß herab. Er packte die Kugel mit den Fängen und hob sie empor in die Luft. Als er ganz oben war, ließ er sie vom Himmel herab auf die Erde fallen. Die Kugel schlug hart auf der Erde auf. Aber sie war aus Eisen und zerbrach nicht. Der Vogel stieß nochmals herab, packte die Kugel, nahm sie empor in die Luft und ließ sie herab zur Erde fallen. Die Kugel schlug wieder hart auf den Boden, aber sie zerbrach nicht. Der Vogel stieß zum drittenmal herab, packte die Kugel, nahm sie empor in die Luft und ließ sie herab zur Erde fallen. Die Kugel schlug wieder hart auf den Boden, aber sie zerbrach nicht.

Der Vogel sah, daß er die Kugel nicht zertrümmern konnte. Er ließ von ihr ab. Darauf rollte die Frau in ihrer Kugel zu dem Orte, in dem es das viele Essen gab. Sie rollte in dem Dorfe zu einem Schmiede. Sie rief von innen dem Schmiede zu: "Mache mir doch die Kugel auf!" Der Schmied ging an die Arbeit und machte ein



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großes Loch in die Kugel. Die Frau kam heraus. Sie ging auf den Markt und kaufte viel Essen ein, soviel wie sie zu sich in die Kugel nehmen konnte. Dann ging sie zu der Kugel zurück und sagte zu dem Schmiede: "Ich werde mit meinen Sachen nun wieder in die Kugel kriechen. Wenn ich darin bin, schmiede sie doch wieder zu." Der Schmied sagte: "Es ist gut!" Die Frau kroch hinein. Der Schmied schmiedete die Kugel wieder zu.

Sobald die Kugel wieder geschlossen war, rollte die Frau auf dem gleichen Wege, auf dem sie gekommen war, wieder dem Heimatdorfe zu. Der Vogel Quellu sah aus der Luft die Kugel unten vorbeirollen. Er stieß herab. Er packte die Kugel mit den Fängen und hob sie empor in die Luft. Als er ganz oben war, ließ er sie vom Himmel herab auf die Erde fallen. Die Kugel schlug hart auf die Erde, aber sie zerbrach nicht.

Der Vogel Quellu stieß wieder herab. Er packte die Kugel nochmals mit den Fängen, nahm sie empor in die Luft und ließ sie herab auf die Erde fallen. Die Kugel schlug wieder hart auf den Boden, aber sie zerbrach nicht. Der Vogel Quellu stieß nochmals herab, packte die Kugel, nahm sie mit sich empor in die Luft und ließ sie herab auf die Erde fallen. Die Kugel schlug wieder hart auf den Boden. Aber sie zerbrach nicht.

Der Vogel sah, daß er die Kugel nicht zertrümmern konnte. Er ließ von ihr ab. Darauf rollte die Frau in ihrer Kugel zu ihrem Heimatdorfe zurück. Im Heimatorte rollte sie zum Schmied. Sie rief dem Schmied von innen heraus zu: "Öffne mir doch die Kugel!" Der Schmied machte sich sogleich an die Arbeit. Er öffnete die Kugel. Die Frau kam heraus. Sie brachte alle Nahrungsmittel heraus, die sie in dem andern Dorfe eingekauft hatte. Sie nährte ihre Kinder, sie konnte noch abgeben. Ihr Mann hatte noch eine Frau. Sie sagte freundlich zu der andern Frau: "Nimm auch für dich und deine Kinder. Es ist genug für uns alle. Nimm nur!" Die andere Frau aber sagte (grob): "Ich brauche deine Geschenke nicht. Was ich für mich und meine Kinder brauche, besorge ich allein. Dazu brauche ich dich nicht!"

Die andere Frau ging darauf zu einer Töpferin und sagte: "Mache mir eine große tönerne Kugel, die so groß ist, daß ich mich hineinsetzen kann. Laß nur auf der einen Seite einige kleine Löcher, durch die ich hinaussehen kann, und auf der andern ein großes Loch, durch das ich hineinsteigen kann." Die Töpferin sagte: "Es ist gut." Sie fertigte die Kugel an. Die Frau stieg hinein und sagte:



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"Nun schließe mir das große Loch auf der Rückseite." Die Töpferiri schloß das große Loch.

Als die Frau in der tönernen Kugel eingeschlossen war, rollte sie in ihr von dannen in der Richtung auf das Dorf, in dem es soviel zu essen gab. Der Vogel Quellu sah die Kugel auf dem Wege dahinrollen. Er stieß herab. Er packte die Kugel mit den Fängen und hob sie empor in die Luft. Als er ganz oben war, ließ er sie vom Himmel aus herab auf die Erde fallen. Die Kugel schlug hart auf dem Boden auf. Da sie aus Ton war, zersprang sie und fiel in tausend Scherben auseinander. Die Frau saß nun auf der Straße.

Der Vogel Quellu stieß von oben herab auf die Frau. Er tötete sie. Er fraß sie.

Also soll eine Frau ruhig von ihrer Nebenfrau das annehmen, was jene ihr anbietet.


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