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Kapitel 

VOLKSDICHTUNGEN AUS OBERGUINEA


I. BAND


FABULEIEN DREIER VÖLKER

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 4 BILDBEILAGEN

c) Sippen und Staatswesen. Uro und Beamte

Das, was mich an den aus dem Westen, aus den Senegal-Nigerländern Kommenden am meisten in Erstaunen setzte, das war die Tatsache, bei den Tim eine gleiche innere Organisation anzutreffen, wie sie mir von den Mande her so vertraut war. Die Tim zerfallen in Stämme, die genau den Diamu der Mande entsprechen (vgl. Atlantisausgabe Bd. V; dort auch das Wort Kafila, für Kaste allerdings!) und mit dem Namen Gobirre bezeichnet werden, ein Wort, das uns unwillkürlich an das Berberwort und den Berbersinn der Kabylen und auch an den Kastennamen der Mande, an die Kafila erinnert. Diese Gobirri haben Namen und mit diesen Namen stellen die Tim sich ebenso vor wie die Mande mit ihrem "Keita", "Diarra", "Traore" usw. Sehr eigentümlich berührt es, daß der Name eines dieser Gobirri, der Ennitje, genau dem beliebtesten aller Mandegrüße entspricht. — Die Zahl der Tim-Gobirri muß eine recht große sein. Aber es gelang mir nicht, ihrer aller habhaft zu werden, und von einem dieser, nämlich dem Nauwa-Gobirri, konnte ich nicht einmal das Totem erfahren.

Genau den Diamus der Mande hat jede Gobirri der Tim ihr Speiseverbot; dasselbe heißt hier Mososi. Die Zugehörigkeit zur Gobirri erfolgt auch hier nach Vaterrechtssystem, so also, daß das Mososi sich vom Vater auf den Sohn fortpflanzt. Aber auch hier —genau wieder der Entwicklungszustand, auf dem die Mande angekommen sind - ist der wesentliche Charakterzug der Exogamie verschwunden. Also Leute vom gleichen Gobirri können sich heiraten. Aber immer nehmen Kinder das Speiseverbot und die Sippenzugehörigkeit vom Vater an. Für das Totem gibt es bei den Tim statt des Wortes "Mososi" noch die Bezeichnung "Makissi", und zwar heißt das wörtlich "Ich (=ma) will nicht." Ich wies schon oben auf die Verwandtschaft zu dem Totemwort Kissi der Mossisprache hin. An Gobirris und ihren Totems brachte ich in Erfahrung:

Name der Gobirri: Totemtier: Dessen Name im Tim:
i. Mala oder Molla Löwe = Guni Schwein =Affo-kundji
Riesenschlange = Adeno
2. Koli Varanus = Kalako
3. Sando Kukuk = Mututu
4. Dare Ratte =Ju
5. Dekaenae Buschmaus =Palanga
6. Takobia Heuschrecke =Tjebau od. Kalefa
7. Laumbu ein Baum = Fulla
8. Nauwa -?— —
9. Nitje od. Ennitje Leopard Mare



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Im inneren Bau scheinen die totemistischen Gruppen fast noch besser erhalten als bei den Mande. So findet sich z. B. noch die Einrichtung eines gewissen Familienherrn des ganzen Gobirri, soweit sie im gleichen Wirtschafts-, Stadt- oder Dorfverband lebt. Es ist das stets der Älteste der Gobirri und man bezeichnet ihn als Dedaualu Kubon, d. h. "Bruder Älteste". Er hat im Stamme Vorrechte, z. B. ganz besondere Arbeitsansprüche.

Nun das, was fehlt. Vor allem habe ich keinerlei Spur eines bedeutsameren Kastenwesens im Bau der Timorganisationen finden können. Weiterhin aber mangelt eine Einteilung nach Altersklassen, eine Einrichtung, die bei den Kabre so ungemein ausgesprochen das gesamte Volksleben beherrscht. Gerade dann, wenn man nach den verwandtschaftlichen Beziehungen dieser Stämme Ausschau hält, wird man dieses Faktum besonders im Auge behalten müssen. Dagegen besitzen die Timstaaten eine Institution, die mir in den Nordwestländern entweder entgangen ist oder die wir hier zum erstenmal antreffen. Es sind das Vorsteher der Jugend. Aber ehe wir diesen Dingen nähertreten, müssen wohl der Zentralleitung der Timstaaten einige Worte gewidmet werden.

An der Spitze der Timstädte stehen die "Uro". An diesem Namen muß auffallen, daß er dem Worte der Fulbesprache, Urodorf, entspricht. Daß Ortsbezeichnungen des einen Volkes Würdetitel bei einem andern werden, ist nicht so ganz selten. Ich mache auf das Wort Ma-dugu aufmerksam, das im Mande "Schloß", "Kastell", "Burg", "Hofburg"und bei den Haussa einen "Führer", "Herrn", "Karawanenfüher" bedeutet. — Im allgemeinen hat jede Timstadt ihren Uro, aber die Landschaft Tschautscho oder Tjautjo, deren Bewohner die Tschautscho-ma (Singular: Tschautscho-nu) sind, hatte noch einen Oberherrn, der über den andern Tschautscho-uro stand und so als "Uro-Iso", als Oberhäuptling (iso =oben) bezeichnet wurde. Da er im Paratau regierte, so nannten sich die Eingeborenen dieser Stadt: "Uro-iso-te-ma". Die Erbschaftsfolge der Timuro ist eine verschiedene. In den Städten scheint im allgemeinen dem Vater der Sohn gefolgt zu sein. Nicht so ist es in der Oberleitung. Angeblich haben früher in abwechselnder Reihenfolge folgende Städte der Landschaft Tschautscho den Oberherrn gegeben: Paratau, Tabailo (oder Tjawalo), Kumma, Katambara, Pangala, Birini Jalifa, Dubuide. Aus den Mollamitgliedern dieser Städte wurde der Uro-Iso gewählt. Daß bei Uneinigkeit der Molla die Dare aus Dschallo ein besonderes Kürrecht hatten, ward schon erwähnt. Anderseits wurde mir gesagt, daß im Streitfälle ein Altenrat oder eine Häuptlingsversammlung aus den Städten Dschallo (oder Tjallo), Kullungete, Salunde und Lungade zusammengetreten sei, um die Sache zu entscheiden.



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Der Oberherr von Tschautscho repräsentierte zumal zur Zeit der Besitzergreifung des Landes eine durchaus imponierende Macht. Es ist als einer der schönsten diplomatischen Erfolge Dr. Kerstings anzusehen, daß es ihm gelang, mit diesem Manne in ein gutes Verhältnis zu kommen und dessen prächtige Reiterschar so zu Hufskräften zu gewinnen. In seiner Glanzperiode stellt der Uro-iso seine 500 Reiter. Seine Hofhaltung hat heute noch etwas Imponierendes, und ein Besuch in einer Residenz ließ mich unwillkürlich einen Vergleich zu dem Königstyp einer Fama von Sansanding anstellen, wobei der Uro-iso durchaus nicht schlecht fuhr. Große schöne Häuser, viele Frauen und Dienerschaft, vor allem aber ein königlicher Verkehrston, der den Dekadenztypus des letzten Mossikaisers entschieden weit übertraf. —So kann ich mir recht wohl vorstellen, daß in Anbetracht der hohen Intelligenz dieses Volkes, des siegreichen Vordringens ihrer Sprache und ihres Handels, des kriegerischen klugen Sinnes der Tim sich von Paratau aus sehr wohl die Erscheinung der Neugründung eines mächtigen Reiches im Sinne des Mossistaates hätte weithin ausdehnen können, wenn die deutsche Verwaltung solchem Werdegang nicht einen Riegel vorgeschoben hätte.

An der Spitze des königlichen Hofes von Paratau stand der Uro-Donde, der Minister und Sprecher des Uro-Iso, der in seinem Amt genau dem haussanischen Abokin-Serki entspricht. Im Innern war er als Minister und Hofmarschall, nach außen als erster Gesandter tätig. Der Uro-Donde war lebenslänglich angestellter Hofbeamter, der auch dann nicht zurücktrat, wenn infolge des Verscheidens des Uro-Iso ein anderer Oberherr an die Spitze des Reiches trat. Nur Tod oder Altersschwäche oder eine verfassungswidrige Absetzung durch den Uro-Iso konnte ihn von seiner Stelle entheben. —Weiterhin gab es am Hofe die Sebaboa (Singular: Sobabe), die den Pagen des Mossilandes genau entsprechen. Sie bekleiden ihre Stellung mit den gleichen Rechtsansprüchen wie der Uro-Donde, also lebenslänglich und über den Tod des Uro-Iso, unter dem sie einrückten, hinaus. Nur daß ein neuer Oberherr sich einige weitere Sebaboa nach seinem Geschmack dazu wählt. Diese Leute werden im Frieden vom Herrscher als Boten und Geschäftsträger, im Kriege als Haufenführer oder Generale je nach Alter und Geschicklichkeit verwendet.

Fernerhin setzte der Uro in jedem Dorfe je eine Konjau (Plural: Konjauwa) ein, das ist stets eine alte Frau, deren Aufgabe es ist, die Schwierigkeiten der Weiber zu regeln, d. h. Schwierigkeiten, die die Weiber untereinander haben. Bricht irgendeine solche Zwistigkeit aus, so haben die Uneinigen, Streitenden und Keifenden sich sogleich an die Konjau zu wenden. Diese hat die Sache zu untersuchen, zu regeln und von jeder solchen Rechtsprechung dem Uro



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Mitteilung zu machen. Die Konjau hatte eine Einnahme von 1000 Kauri aus jeder Entscheidung. Diese Zahlung hatte die verurteilte Partei zu leisten und die Richterin hatte hiervon nichts an den Uro abzugeben. — Es ist dies das erstemal, daß mir in diesem Teil Afrikas von einer solchen weiblichen Beamtin Kenntnis ward, und da es sich in folgenden beiden Ämtern um das gleiche handelt, so treten wir hiermit einer ganzen Gruppe neuer Tatsachen an der Südostgrenze des Westsudan entgegen.

Jedes Dorf der Tim, respektive jede Kotokollistadt hat einen Serki Samare (Plural: Serki Samaroa). Serki, bekanntlich das Haussawort für "Herr über" oder "König von", deutet nach Osten. Das ist der Führer der jungen Leute. Er wird aber nicht vom Uro, sondern von der jungen Mannschaft selbst gewählt und dann dem Uro als ihr Vertreter vorgestellt. Wenn nun der Häuptling eine Aufforderung an die Männer der Dörfer richten will, daß sie zur Arbeit oder zum Kriege kommen sollen, so sendet er eine Nachricht entsprechenden Sinnes an den Serki Samare, und der versammelt dann die gewünschte Zahl und führt sie zum Uro. Im Kreise seiner Mannschaft selbst schlichtet er kleine Schwierigkeiten, hört dagegen größere Angelegenheiten und alles Wichtigere nur an, um dann dem Uro Vortrag zu halten und seine Entscheidung einzuholen. Zum Serki Samare wird gewöhnlich ein jüngerer Mann gewählt, der aber recht wohl verheiratet sein kann. Auch kann er sehr lange in seinem Amte bleiben und hat erst dann sein Amt niederzulegen, wenn die Anzeichen des Alters allzu drohende werden, d. h. also, wenn er seine Geschäfte nicht mehr ordentlich führen kann, weil körperliche oder geistige Erschlaffung seine Spannkraft weichen lassen. Körperliche Beweglichkeit und Überlegenheit muß er aber schon insofern besitzen, als er auch die Tänze der jungen Männer zu führen und zu leiten hat. Diese bestehen im Reihenreigen, der um die Trommel aufgeführt wird und den Namen Mballa führt.

Dem Serki Samare der jungen Männer entspricht für die Mädchen die Uoque (Plural: Uoquewa). Jedes Dorf der Tim hat seine Uoque. Der Unterschied dieser Gruppe gegenüber der Männergruppe besteht in der bei weiblichen Wesen natürlich viel mehr dominierenden Differenzierung geschlechtlicher Gebundenheit oder Ungebundenheit. Im Gegensatz zur Männergruppe gehören nur Mädchen in die von den Uoque geleiteten Vergeselischaftungen, und jedes sich verheiratende Mitglied scheidet aus und entzieht sich somit dem Einfluß der Uoque. Die Mädchengenossenschaft wählt sich ihre Uoque aus ihrem Kreise, und die Uoque kürt sich dann ihrerseits aus ihrem Machtbereich eine Gehilfin, die den Namen Jerimea (Plural: Jerimauwa) führt. Die Funktionen dieser Mädchenherrinnen



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Gehöft in Tamberma (Nord-Togo)



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sind genau die gleichen wie die der Serki Samare. Sie nehmen die Arbeitsforderungen vom Uro entgegen und führen ihm die geforderte Zahl der Arbeiterinnen zu. Sie schlichten kleine Zwistigkeiten und halten dem Uro Vortrag über alles Wichtige, was sich in ihrer Genossenschaft ereignet, und über etwaige Wünsche der jungen Mädchen.

Fernerhin haben beide, Serki Samare und Uoque, ausgesprochene Repräsentations- und zivile Zeremonialverpflichtungen. Wenn aus einem andern Orte angesehene Leute zu Besuch kommen, so haben beide, Männer- und Mädchenführer, dafür zu sorgen und dafür einzutreten, daß ihre Genossenschaften sich in guter Kleidung versammeln. Danach eilen die jungen Männer unter dem Serki Samare und die Mädchen unter der Uoque und der Jerimea den Fremdlingen entgegen. Dabei tanzen und singen sie. Und wenn abends dann der festliche Biertopf umgeht und der Mondschein lockt, so führt der Serki Samare seine Männer im Mballa vor, während die Uoque ihre Mädchen zum Tore (Plural: Toroa) in einem eigenen Kreise versammelt. Dieser Tore entspricht dem Tanze der Mossiund Djabavölker, bei dem alle in die Hände klatschen und immer zwei umeinander tanzen und dann prompt mit der Stelle gegeneinanderstoßen, die sonst nur zum Sitzen verwendet wird. Dieser Tanz wurde bei Gurunsi, Moba, Tamberma und Bassariten schon erwähnt.

So bietet uns das Wesen dieser Timorganisationen einige hochinteressante Parallelen, die unbedingt nicht nach dem Westen, sondern nach dem Osten weisen.


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