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Kapitel 

VOLKSDICHTUNGEN AUS OBERGUINEA


I. BAND


FABULEIEN DREIER VÖLKER

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 4 BILDBEILAGEN

18. Spinne und Vogel

Der Vogel Kanaduge (im Tim Odu genannt, ein Stelzvogel mit mächtigem Schnabel und großen Ohrlöchern) forderte Nate (Spinne) auf, ihn mit zu dem Dorfe seiner demnächstigen Schwiegermutter zu geleiten, deren Tochter Kanaduge als Frau einzuholen gedachte. Spinne antwortete: "Da ist Unum (Plural: Inum; in Tim: Tschallia, Plural: Tjallesse, der Skorpion), das ist mein Freund. Ich habe mich mit ihm für die nächsten Tage verabredet,



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und nun mag ich ihn nicht so plötzlich vernachlässigen." Kanaduge sagte: "Das ist doch aber ganz einfach! Da nehmen wir eben deinen Freund auch mit." Spinne sagte: "Sehr schön; so nimmst du ihn also unter deine Flügel?" Der Vogel Kanaduge sagte: "Das geht nicht; denn wenn ich ihn unter die Flügel nehmen und die Flügel zum Fliegen ausbreiten würde, so müßte er herunterfallen." Spinne sagte: "Das ist wahr! Nun, so nimm ihn doch in die Ohrlöcher." Kanaduge sagte: "Ja, siehst du, das kann ich sehr leicht machen." Darauf nahm Kanaduge den Skorpion in das Ohrloch.

So reisten sie zusammen in das Dorf der Frau, deren Tochter Kanaduge heiraten wollte. In dem Dorfe wurden sie sogleich sehr freundlich empfangen. Es wurde ihnen ein großer Topf Bier noch am gleichen Abend herbeigebracht. Sie aßen. Sie schliefen. Am andern Morgen brachte man einen weiteren Topf, gefüllt mit gutem Bier. Sie tranken sich satt. Dann hatten sie Hunger. Man brachte Töpfe mit ausgezeichnetem Essen. Hühner waren geschlachtet und zum Brei eine ausgezeichnete Soße gegeben.

Kaum sah Spinne die Soße, so machte er sich eilends daran und schlürfte sie ohne viel Bedenken. Als die Soßenschale leer war, sagte er zu Kanaduge: "Geh hin, verlange von deiner Schwiegermutter mehr Soße. Es war viel zu wenig." Kanaduge sagte: "Wenn ich das tue, so wird womöglich die Frau, die ich heiraten möchte, böse, und ich könnte eine Unannehmlichkeit davon haben."Spinne sagte: "Wenn du nicht willst, so soll dich der Skorpion ein wenig in das Ohr stechen!" Kanaduge sagte: "Ich möchte wirklich nicht noch mehr erbitten, denn ich werde sicherlich Unannehmlichkeiten davon haben." Spinne sagte zum Skorpion: "Stich den Kanaduge in das Ohr!" Der Skorpion stach. Kanaduge schrie auf vor Schmerz und rief laut: "Meine Mutter, bringe schnell noch Soße!" Als die Frau das hörte, brachte sie wirklich noch eine Schüssel voll der ausgezeichneten Soße herbei. Kaum war die Frau fort, so setzte Spinne wieder die Schüssel an den Mund und schlürfte die Soße hinunter. Als er damit fertig war, sagte er zu Kanaduge: "Sage doch deiner Mutter, daß sie noch mehr Soße bringe: du siehst, es war nicht genug." Kanaduge sagte: "Aber Spinne, wie könnte ich das! Ich habe nun schon einmal von der Soße nachgefordert! Ich würde ja die allerschlimmsten Unannehmlichkeiten haben." Spinne sagte: "Das ist mir gleich! Du hast mich eingeladen, dich in das Dorf deiner künftigen Schwiegermutter zu begleiten, und nun mußt du mich natürlich auch so gut ernähren, wie ich es gewohnt bin."



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Kanaduge sagte: "Es geht wirklich nicht. Ich werde noch um meine Frau kommen!" Spinne sagte: "Wenn du es nicht tust, so soll dich der Skorpion einmal gründlich stechen." Kanaduge sagte: "Es geht nicht." Spinne sagte zum Skorpion: "Nun stich einmal ordentlich!" Der Skorpion stach. Er stach mit aller Kraft. Der Vogel litt solchen Schmerz, daß er hinfiel. In seiner Angst rief der gequälte Kanaduge: "Mutter, Mutter, bring nur schnell noch von der Soße!"

Als die Frau das hörte, ward sie über die Maßen zornig und sagte: "Ich habe diesem Kanaduge nun schon zweimal von der ausgezeichneten Soße gegeben. Das ist ja ein ganz Unersättlicher. Dem werde ich meine Tochter nicht zur Frau geben. Der stille und bescheidene Spinne sagt mir doch weit mehr zu." Die Frau warf den Vogel Kanaduge heraus. Ihre Tochter aber gab sie Spinne zur Frau.

Seitdem wohnt Spinne in den Häusern, während Kanaduge im Lande, im Busch, im Walde herumstreifen muß. Wo Kanaduge aber einen Skorpion sieht, da hackt und tötet er ihn, darum, daß er Spinne seinerzeit geholfen hat.


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