DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN
VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN
ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839
ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN
BAND 3
IM INSEL-VERLAG
DIE GESCHICHTE VON HARÛN ER-RASCHÎD
UND DEN DREI DICHTERN
Eines Nachts ward der Beherrscher der Gläubigen Harûn er-Raschid von großer Unruhe geplagt; da erhob er sich und wanderte überall in seinem Palaste umher. Nun begegnete ihm eine Sklavin, die vor Trunkenheit schwankte. Weil er gerade diese Sklavin leidenschaftlich liebte, so tändelte er mit ihr und zog sie an sich; doch dabei fiel ihr Mantel herab, und ihr Untergewand löste sich. Er bat sie um ihre Liebesgunst; aber sie erwiderte ihm: ,Laß mir bis morgen abend Zeit, o Beherrscher der Gläubigen! Ich bin nicht auf dich vorbereitet; denn ich wußte nichts von deinem Kommen.' Da verließ er sie und ging fort. Als aber der Tag sich erhob und seine Sonne die Welt mit leuchtenden Strahlen durchwob, sandte er einen Diener zu ihr, um ihr kundzutun, daß der Beherrscher der Gläubigen ihr Gemach besuchen werde. Doch sie ließ ihm antworten: ,Der helle Tag verwischt das Wort der Nacht.' Da sprach er-Raschîd zu seinen Tischgenossen: ,Macht mir Verse, in denen die Worte vorkommen: Der helle Tag verwischt das Wort der Nacht!' ,Wir hören und gehorchen!' erwiderten
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sie; und als erster trat er-Rakâschi 2 vor und sprach diese Verse:
Bei Allah, Mädchen ,fühltest du mein Leiden, Du wärest bald um deine Ruh gebracht! — Dich, Herr, hat eine Jungfrau, die nicht nahet, Der nicht genaht wird, liebeskrank gemacht. Sie brach dir ihr Versprechen, und sie sagte: Der helle Tag verwischt das Wort der Nacht. |
Darauf trat Abu Mus'ab vor und sprach diese Verse:
Wann wirst du weise, wo dein Herz verzückt ist. Wo Ruh dich meidet und dein Auge wacht? — Genügt dir nicht das Auge voller Tränen, Die Glut im Herzen, die dein Nam entfacht? — Er lächelte und sagte selbstgefällig: Der helle Tag verwischt das Wort der Nacht.' |
Und als letzter trat Abu Nuwâs vor und sprach diese Verse:
Die Lieb war lang; wir waren fern einander. Wir stritten auch; nicht frommte uns der Streit. Da traf ich sie bei Nacht im Schlosse trunken; Doch war sie züchtig noch in Trunkenheit. Der Mantel sank herab von ihren Schultern Beim Tändeln; das Gewand fiel auch geschwind. Am Zweige, dran die zarten Äpfel hängen, An schweren Hüften rüttelte der Wind. Ich sprach: Gib deinem Lieb ein treu Versprechen! Sie sagte: Morgen wird es schön vollbracht. Ich kam am Morgen, sprach: Dein Wort? Sie sagte: Der helle Tag verwischt das Wort der Nacht. |
Da befahl der Kalif, einem jeden der beiden ersten Dichter zehntausend Dirhems zu geben, doch nicht dem Abu Nuwâs.
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Vielmehr gebot er, ihm den Kopf abzuschlagen, indem er sprach: ,Du bist gestern abend bei uns im Palast gewesen!' Abu Nuwâs jedoch rief: ,Bei Allah, ich habe nirgendwo anders geschlafen als in meinem Hause. Ich bin nur durch deine Worte auf den Inhalt meiner Verse hingewiesen worden. Allah der Erhabene, der von allen die lauterste Wahrheit spricht, hat gesagt: Und den Dichtern folgen die Irrenden nach. Siehst du nicht, wie sie in jedem Wadi verstört umherlaufen, und wie sie reden, was sie nicht tun?" Da vergab der Kalif ihm und befahl, ihm zwanzigtausend Dirhems zu geben. Darauf gingen die drei Dichter fort.
Ferner erzählt man
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