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Kapitel 

VOLKSDICHTUNGEN AUS OBERGUINEA


I. BAND


FABULEIEN DREIER VÖLKER

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 4 BILDBEILAGEN

16. Spinne und Chamäleon

Spinne (Nate) forderte das Chamäleon (Kinato; Plural: Kinatote) auf, mit ihm gemeinsam einen ihm befreundeten Häuptling zu besuchen. Das Chamäleon sagte: "Es ist mir recht; ich habe nichts anderes vor und komme sehr gerne mit." Sie machten sich beide auf den Weg. Als sie die Straße hinwanderten, sagte Spinne: "Wir wollen uns so verabreden, daß, wenn die Leute etwas für Tjamsi bringen, so ist es für dich bestimmt, und wenn sie etwas für Benentjambe bringen, so fällt es mir zu. Bist du damit einverstanden?" Das Chamäleon sagte: "Es ist mir ganz recht so, wie du eben bestimmt hast. So wird es dann schon recht sein, und so kann kein Streit entstehen."

Die beiden wanderten und kamen glücklich an. Sie wurden von dem Häuptling mit aller Freundlichkeit aufgenommen. Man



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breitete ihnen sogleich eine Matte aus. Als sie sich niedergelassen hatten, brachte man Essen und Bier. Es war alles in großer Menge da. Jedesmal aber, wenn etwas kam, fragte Spinne: "Es ist doch wohl für Bene-ntjambe bestimmt?" Die Leute sagten dann: "Wir sollen es dir bringen." Dann fraß Spinne alles auf; dann soff Spinne alles aus. Es blieb nichts für das Chamäleon über. Das Chamäleon hatte, trotzdem reichlich für zwei gebracht war, nichts abbekommen und litt an Hunger und Durst.

Das hungernde Chamäleon ging endlich heraus aus dem Gehöft, um zu sehen, ob es nicht draußen etwas zu essen finde. Es kam dahin, wo die Frauen den Jams in Mörsern zermalt hatten und wo noch Spritzer und kleine Flocken sowie andere Abfälle herumlagen und an den Wänden und den Geräten klebten. Das Chamäleon sammelte diese kleinen Abfälle, Spritzflocken und Reste auf, um nun damit den Hunger zu stillen. Inzwischen hatte der Häuptling, bei dem Spinne mit seinem Freunde, dem Chamäleon, zu Gaste war, einen Spaziergang durch die Felder gemacht. Er kam zurück und traf das Chamäleon, das gerade dabei war, den Boden des Stampftroges auszukratzen. Der Häuptling sah eine Weile aus der Entfernung zu, dann kam er näher und sagte: "Was soll denn das sein? Haben meine Frauen euch denn nicht genug zu essen gebracht, daß du dich hier mit Trogkratzen füttern mußt?" Das Chamäleon sagte: "Deine Frauen haben schon genug gebracht, aber Spinne hat mit mir verabredet, daß alles, was für Bene-ntjambe gebracht wird, von ihm - alles was für Tjamsi gebracht wird, von mir verzehrt werde. Nun fragt Spinne immer, ob es nicht für Benentjambe bestimmt sei; die Leute sagen dann ja, und er nimmt es für sich. So komme ich zu meinem Hunger." Der Häuptling sagte: "Es ist gut, daß ich es weiß! Nun gehe nur wieder hinein ins Gehöft!" Das Chamäleon ging hinein.

Der Häuptling ging hinein und gab seine Anordnungen. Er sagte zu seinen Frauen: "Macht sogleich noch einmal Brei und gute Soße und legt ein großes Stück Fleisch darauf. Das bringt mir dann zu den Freunden hinein. Wenn sie fragen, für wen es bestimmt sei, so sagt, es sei für Tjamsi!"Die Frauen machten sich sogleich daran. Sie bereiteten guten Brei und eine ausgezeichnete Soße, und oben auf das Gericht legten sie ein schönes Stück Fleisch. Sie brachten den Brei und die Soße und das Fleisch in das Haus, in dem Spinne und das Chamäleon waren. Spinne fragte sogleich: "Ist das für Bene-ntjambe?" Die Frauen sagten sogleich: "Nein, das ist für



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Tjamsi bestimmt!" Darauf nahm das Chamäleon alles an sich und begann zu essen. Spinne saß böse in einer Ecke, während das Chamäleon alles zu sich nahm, den Brei, die gute Soße und das Fleisch. Das Chamäleon aß alles allein, und Spinne mußte zusehen.

Spinne war darüber böse. Spinne ging zum Häuptling und sagte (übelgelaunt): "Ich will noch heute abend mit meinem Freunde zurückkehren!" Der Häuptling sagte: "So warte doch bis morgen früh. Bis morgen früh werde ich ein Geschenk für jeden von euch vorbereiten, das könnt ihr dann nehmen und damit könnt ihr gleich nach Hause gehen." Spinne sagte: "Dann will ich bis morgen früh bleiben." — Inzwischen band der Häuptling eine dünne Schnur an die Hörner einer großen Kuh und eine dicke an das Bein eines kleinen Ochsen. Mit den andern Enden der beiden Schnüre trat der Häuptling am andern Morgen bei den beiden Gästen ein. Er zeigte die beiden Schnurenden und sagte: "Am andern Ende jeder dieser beiden Schnüre ist ein Stück Rindvieh angebunden, die draußen im Hofe stehen. Es ist eine große Kuh und ein kleiner Ochse. Nun wähle jeder eine Schnur. Das daran angebundene Rindvieh gehört dann ihm." Die beiden Freunde sahen nur die Schnüre. Die Tiere selbst konnten sie nicht sehen. Spinne ergriff sogleich die starke Schnur, denn er dachte: "An der starken Schnur ist die große Kuh, an dem dünnen Strick der kleine Ochse angebunden." Spinne sagte: "Ich wähle das Tier, das an dieser Schnur angebunden ist." Der Häuptling sagte: "Es ist gut! Ganz nach deinem Willen."

Spinne ergiff die starke Schnur, ging hinaus und sah, daß an der starken Schnur der kleine Ochse und an der dünnen Schnur die große Kuh angebunden sei. Spinne sah, daß er hineingefallen sei. Spinne schrie sogleich: "Ach, ich habe plötzlich so starke Bauchkrämpfe! Ach, ich habe solche Schmerzen! Ach, ich kann noch nicht heimgehen!" Der Häuptling sagte: "Gut, so bleibe doch noch einen Tag hier!" Dann sagte der Häuptling zu seinen Leuten: "Bringt die Rinder wieder fort. Morgen früh führt sie wieder her." Die Leute brachten die Rinder fort. Spinne ging mit dem Chamäleon wieder in die Hütte.

In der Nacht wechselte der Häuptling die Schnüre um. Er band die starke Schnur an die Hörner der großen Kuh, die schwache an den Fuß des kleinen Ochsen. Am andern Morgen kam er mit den Schnurenden in die Hütte, in der Spinne und das Chamäleon waren. Er fragte Spinne: "Wie geht es dir heute?"Spinne sagte: "Es geht



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mir wieder sehr gut. Ich bin gesund und kann heute heimkehren. Gib nur die Schnüre her, damit jeder sein Vieh auswählen und heimkehren kann! Der Häuptling reichte die Schnüre. Spinne griff sogleich nach der dünnen Schnur und überließ dem Chamäleon die dicke. Beide gingen, jeder mit seinem Schnurende in der Hand, hinaus. Der Häuptling ging mit ihnen. Draußen sah Spinne, daß heute der kleine Ochse an der dünnen Schnur angebunden war. Spinne sah, daß er wieder hereingefallen war. Spinne schrie sogleich: "O weh! Meine Bauchkrämpfe beginnen schon wieder! O weh! Was habe ich für Schmerzen! O weh! Ich kann heute nicht nach Hause gehen." Der Häuptling sagte aber: "Spinne, du wirst gehen! Du wirst deinen kleinen Ochsen und das Chamäleon wird seine große Kuh nehmen und dann werdet ihr sogleich in euer Dorf gehen." So mußte Spinne mit dem Chamäleon und mit dem kleinen Ochsen, der ihm gehörte, und der großen Kuh, die das Eigentum des Chamäleon war, von dannen gehen.

Spinne und Chamäleon zogen den Weg hin. Spinne führte den kleinen Ochsen, das Chamäleon die große Kuh. Nach einiger Zeit empfand das Chamäleon ein Bedürfnis. Es sagte zu Spinne: "Halte doch eben einmal meine Kuh ein wenig; ich muß einmal austreten. Spinne sagte: "Das will ich gerne tun." Das Chamäleon ging beiseite. Spinne aber hielt am Wege Ochse und Kuh. Während nun das Chamäleon beiseite getreten war, ward seine Kuh plötzlich von den Wehen ergriffen und warf ein Kalb. Sogleich fing Spinne allen Mist, alles Blut und allen Unrat auf und warf alles seinem kleinen Ochsen an den Hintern und sagte zu dem zurückkehrenden Chamäleon: "Während du fort warst, hat mein Ochse ein Kalb geworfen." Das Chamäleon sagte: "Ei, das ist ja gut für dich!"

Als sie nahe am Dorfe und am Kreuzwege angekommen waren, an dem ihre Wege sich trennten, trieb jeder sein Viehstück nach seiner Seite. Das Kälbchen aber wollte mit der Kuh Chamäleons laufen. Da wurde Spinne böse. Er sagte zu dem Chamäleon: "Ich sehe, du hast dem Kalb eine Medizin gemacht, so daß es mit deiner Kuh laufen will, trotzdem es zu meinem Ochsen gehört." Spinne schlug auf das Chamäleon. Spinne gab dem Chamäleon Ohrfeigen. Das Chamäleon rief: "Töte mich nicht! Töte mich nicht! Binde doch nur das Kalb an, damit es nicht zu mir laufen kann. Ich will doch wirklich das Kalb nicht stehlen, da du sagst, dein Ochse habe es geworfen." Darauf band Spinne das Kalb an seinen



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Ochsen und trieb es mit dem Ochsen zu sich. Das Chamäleon ging aber mit seiner Kuh heim.

Eines Tages saß Spinne unter einem Baume. Spinne hörte oben im Baume etwas. Spinne sah empor. Spinne sah, daß oben im Baume das Chamäleon saß und Holz schlug. Spinne rief hinauf: "Wer ist da oben?" Das Chamäleon antwortete: "Ich bin es, dein Freund, das Chamäleon."Spinne sagte: "Und was machst du da oben?" Das Chamäleon sagte: "Ach, nichts weiter! Aber der Häuptling hat ein Kind geboren und da soll ich Holz schlagen." Spinne sagte: "Wer hat das Kind geboren, der Häuptling oder seine Frau?" Das Chamäleon sagte: "Nun, der Häuptling!" Spinne sagte: "Du lügst! Kinder werden von Frauen geboren, nicht von Männern." Das Chamäleon sagte: "Es ist doch nicht immer so, denn dein Ochse hat doch neulich auch geboren!"

Spinne sagte: "Du hast recht." Spinne gab dem Chamäleon das Kalb zurück. — Daraus haben alle Leute die Lehre gezogen, daß Freunde ehrlich teilen sollen.


Copyright: arpa, 2015.

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