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Kapitel 

VOLKSDICHTUNGEN AUS OBERGUINEA


I. BAND


FABULEIEN DREIER VÖLKER

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 4 BILDBEILAGEN

7. Das bestrafte Kind

Es ward ein Knabe geboren. Der Knabe wuchs heran. Er ward groß. Er ward ein Mann, der heiratete eine Frau. Mit der Frau zeugte der Mann einen Knaben. Das Kind sah alles, was Vater und Mutter machten. Das Kind wollte (wie alle Kinder) alles gleich Vater und Mutter machen.

Das Kind wollte auch mit dem Bogen schießen wie der Vater. Das Kind sagte: "Vater, mach mir einen Bogen!" Der Vater machte dem Kind einen Bogen aus Bambus. Das Kind sagte: "Ich will nicht einen Bambusbogen haben. Ich will einen andern Bogen haben." Der Vater fragte: "Was für einen Bogen willst du denn haben." Das Kind sagte: "Ich will einen Bogen aus Holz haben." Der Vater machte dem Kinde einen Bogen aus Holz und gab ihn dem Kinde. Das Kind sagte: "Ich will nicht diesen Bogen haben. Ich will einen andern Bogen haben." Der Vater fragte: "Was für einen Bogen willst du denn nun (eigentlich) haben?" Das Kind



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sagte: "Warte! Wenn ich das Geeignete sehe, dann werde ich es dir sagen."

Der Knabe ward größer. Zwei Jahre nachher sagte er zu seinem Vater: "Nimm dein Schienbein heraus, gib es mir, dann werde ich mir einen Bogen daraus machen." Der Vater sagte: "Du willst mich (also) tot machen?" Der Junge sagte: "Du wirst nicht davon sterben. So schlimm ist das nicht." Der Vater sagte: "Ich kann mir mein Schienbein nicht herausnehmen. Wenn ich aber gestorben bin, dann kannst du mir das Schienbein herausnehmen und dir so einen Bogen aus deines Vaters Schienbein machen."

Das Kind sagte: "Es ist nicht so. Ich werde dir das Schienbein herausnehmen, und du wirst doch am Leben bleiben." Der Vater sagte: "Wenn du mich tot machen willst, so nimm es heraus." Das Kind sagte: "Ich kann das machen, ohne dir zu schaden." Der Vater sagte: "So tue es schon, wenn du durchaus willst."

Der Vater hob das Bein hoch. Das Kind nahm das Schienbein heraus und machte daraus einen Bogen.

Am andern Morgen begab sich das Kind mit dem neuen Bogen und Pfeilen auf die Jagd. Nach einer Weile traf er eine Pferdeantilope. Das Kind schoß. Der Pfeil schlug richtig ein. Aber die ganze Antilope verbrannte. Das Kind kam nach Hause. Der Vater fragte das Kind: "Nun, wo hast du denn das Fleisch?" Das Kind sagte: "Warte bis morgen. Morgen werde ich dir ein seltenes Stück Wild heimbringen."

Am andern Morgen machte sich das Kind wieder auf den Weg zur Jagd im Busche. Das Kind kam an kleinen Antilopen vorbei. Das Kind sagte: "Das ist nicht das Rechte." Das Kind kam an Kuhantilopen vorbei. Das Kind sagte: "Das ist nicht das Rechte." Das Kind kam an Pferdeantilopen vorbei. Das Kind sagte: "Das ist nicht das Rechte." Das Kind kam an Büffeln vorbei. Das Kind sagte: "Das ist nicht das Rechte." Das Kind kam an Elefanten vorbei. Das Kind sagte: "Das ist nicht das Rechte." Das Kind sah zwei Löwen. Das Kind sagte: "Das ist das Rechte. Das wird dem Vater gefallen (imponieren) !"

Das Kind nahm einen Pfeil heraus und schoß auf den einen Löwen. Der Löwe fiel. Der andere Löwe duckte sich seitwärts im Grase. Das Kind nahm den getöteten Löwen auf den Kopf, um ihn mit nach Hause zu nehmen. Der andere Löwe aber folgte brüllend in einiger Entfernung. Je näher das Kind mit seiner Beute dem Gehöfte des Vaters kam, desto näher kam der andere Löwe.



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Der Löwe brüllte. Das Kind bekam Angst. Das Kind begann zu laufen. Je näher das Kind aber dem Gehöft des Vaters kam, desto näher kam auch der andere Löwe.

Das Kind war dem Gehöft des Vaters ganz nahe. Der Löwe war dem Kind nahe. Das Kind sah den Vater am Gehöft stehen. Das Kind schrie: "Vater, hilf mir! Der Löwe will mich packen!" Als der Vater das sah, duckte er sich hinter die Mauer des Gehöftes. Der Vater sagte: "Dies Kind hat seine Sache alleine angefangen; nun mag das Kind es auch alleine beenden!" Dann lief der Vater fort auf den Berg und versteckte sich da.

Das Kind kam in das Gehöft. Der Löwe sprang gleich hinterher. Das Kind fand das Gehöft verlassen. Der Löwe sprang auf das Kind. Der Löwe tötete das Kind. Der Löwe fraß das Kind.

Das kam daher, daß das Kind den Bogen aus seines Vaters Bein gemacht haben wollte (will sagen: war eine Folge ungezogenen Eigensinnes!).


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