Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

VOLKSDICHTUNGEN AUS OBERGUINEA


I. BAND


FABULEIEN DREIER VÖLKER

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



Atlantis Bd_11-0004 Flip arpa

TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 4 BILDBEILAGEN


Die drei Völker

Wie Findlingsstein am Fuße eines gewaltigen Gletschergebirges, so lagern Volkstrümmer als Reste einer großen und reichbewegten Vergangenheit um die Oberguineaküste. Die Verbreitungsbahn dieser geschichtlich Eigengearteten erstreckt sich vom Senegal süd- und ostwärts bis zum Benue im englischen Nigerien. Dieses Band umschließt das Lebensgebiet der zwei Sudankulturen, das der äthiopischen Tiefkulturen und das der geschichtlichen Hochkulturen. Die Völker dieser letzten Gruppen: Mande, Songhai, Mossi-Gurma, Haussa, Kanuri haben das Kräftespiel geweckt, dessen Folge die Abschiebung der Findlinge in das Band der Oberguineaküste war.

Die Abgeschobenen gerieten aber nicht in armes Land. Auch hier prangte in alter Zeit hohe Kultur, die atlantische Kultur Westafrikas (vgl. Atlantis Bd. X).Weiches, warmes, üppiges Leben umfing die aus den Nöten des Ringens in der Steppe Entronnenen. Sie gaben sich mehr oder weniger dem Zauber der andern Kultur hin. Also verband sich in ihnen zweierlei Lebensgefühl.

Das Wesen und den Stil dreier solcher Guineafindlinge zu entfalten, ist hier meine Aufgabe.



***
Bei uns herrscht die Tendenz, die Persönlichkeit des Individuums zu entwickeln. Was bei uns Individuum ist, ist dort der Stamm. Es gibt kein Gebiet Afrikas, in dem die kleinen Stämme mit so ausgesprochener Stileigenart, Persönlichkeit, in so scharf konturierter Physiognomik einander gegenüberstehen.

Einmal die Bassari im nördlichen Togo: ein praktischer, unangenehm industriell-tüchtig-geschäftsgeheimnisvoller, materialistischer Schlag. Nördlich von ihnen wohnen die kindlich-naiv reinen Athiopensippen. Auf dem Marktplatz Kabu treffen sie sich wohl. Aber sie gleiten aneinander vorüber, ohne sich seelisch zu berühren. Im Westen die staats- und kriegstüchtigen Dagomba. Im Südosten die staatsklugen, kaufmännisch großzügigen, gewandten Tim. Im Nordosten die einst so reichen, heute verarmten und kulturell schwermütigen Killinga. Alle diese kennen sich, begegnen sich, gleiten aber ebenfalls aneinander vorüber, ohne sich seelisch zu berühren. So ist es in Togo.

Am Benue leben als Reste des einst so gewaltigen Reiches Kororofa die Jukum. Ich habe sie und ihr Fabelleben in Atlantis Bd. VII •geschildert und als Beispiel eines hohen mythologisch archaistischen Stiles charakterisiert. Direkt neben ihnen, durch einen Bach und Waldstücke gesondert, wohnen die Waldmenschen, die Muntschi, ein Volk unglaublicher Naivität, ungeahnter Aufnahmefähigkeit, verschrien unter allen Nachbarvölkern als Menschenfresser rein-



Atlantis Bd_11-002 Flip arpa

sten Wassers. Auf dem Markte handelt der Jukum mit dem Muntschi. Der Jukum in wallender Toga, mit großen Bewegungen, ein kultivierter Städter mit bewußtem Bildungsgefühl. Der Muntschi in selbstgewebtem groben Schurz, von oben bis unten mit roter, öliger Schicht überzogen, lachend, bauernmäßig, dummdreist, vergnügt sein Mädchen am Arm schwenkend. Es ist einer der großen Gegensätze. Aber wenn sie sich auch überall und immer wieder, eine Generation nach der andern, treffen, so schleifen sie sich doch nicht aneinander ab.



***
Dabei ist natürlich nicht zu übersehen, daß äußerlich eine Verschiebung des Kulturgutes vor sich geht, wenn solche auch keinen umbildenden, verunklärenden Einfluß auf die Stilreinheit der Physiognomie ausübt.

Die beiden großen Gegensätze: Schlichte Linie und großes Format im Sudan; üppige Fülle und geschmeidige Feinheit in Westafrikadiese Gegensätze, die nicht anders sein können, weil die Steppe eben nichts anderes als das erstere, der Urwald nichts anderes als das letztere lebendig zu erhalten vermag-, diese Gegensätze wirken sich bis in feine Variationen in den Guineakulturen aus. Hierzu einige Belege.

Die atlantische Kultur als jungmutterrechtliche (im Gegensatz zur hamitischen als ur- oder altmutterrechtlichen) ist geleitet von einem stark sexualerotischen Trieb. Tempelbuhlerinnen, heilige Prostitution spielten ebenso wie Phallische Frühlingsorgien eine große Rolle wie seiner Zeit im hochentwickelten Westasien (vgl. Atlantis Bd. X). Solches spiegelt sich auch in der Verbreitung entsprechender Stücke der Volkspoesie wider. Ein stark atlantischinklinierendes Volk wie die Tim bietet nicht weniger als drei Fabeln von der Phallusschiange (Nr. 19-21), sechs Geschichten als Ausdruck der Freude am Geschlechtsieben (Nr. 23-28). Dies tritt sogar in den anschließenden Tiermärchen hervor. Annähernd, wenn auch schwächer, bietet die Volksdichtung der Muntschi gleiche Tendenz. Demgegenüber trägt die Erzählungskunst der Bassari einen mehr sudanisch natursinnlichen Charakter. Die altehrwürdige Jägerlegende (vgl. Atlantis Bd. VII) steht an erster Stelle.

Das Äthiopische ist hier entgegengesetzt dem Atlantischen. Um das Mischungsverhältnis noch deutlicher zu charakterisieren, habe ich deshalb das gesamte Volksleben in seiner Steigerung aus historischem Werden bis in die Erfüllung in religiösem Erleben für jede der drei Varianten oberguineischen Kulturseins dargelegt.

Diese Bilder gestalten sich somit ganz naturgemäß zu einer verfeinernden Ergänzung und Gliederung der im vorigen Bande ausgeführten atlantischen Götterlehre (Atlantis Bd. X).


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt