Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

DIE ATLANTISCHE GÖTTERLEHRE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1926

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



Atlantis Bd_10-000.4 Flip arpa

TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE

MIT EINER FARBIGEN TAFEL, 16 KARTEN

UND 87 ZEICHNUNGEN IM TEXT

36. Der Hunger des Waisenkindes

Ein Knabe hatte keine Mutter und keinen Vater. Er war ein Omonekere-bete. Der Knabe ging in den Busch. Er aß da Palmkerne. Er begegnete Ahun. Ahun fragte ihn: "Was ist mit dir?" Der Waisenknabe antwortete: "Ich bin hungrig. Man kann mich nicht satt machen (wörtlich: mir den Bauch nicht füllen)." Ahun sagte: "Komm, ich will dir genug zum Essen geben." Der Waisenknabe sagte: "Ich glaube nicht, daß du mich satt machen kannst." Ahun sagte: "Das wollen wir nun doch erst einmal sehen!" Dann holte Ahun vielen Jams von seiner Farm, ließ viel, viel Brei machen und ihn dem Waisenknaben vorsetzen. Der Waisenknabe aß allen Jams von den Feldern Ahuns auf, aber sein Bauch war doch noch nicht gefüllt. Da holte Ahun alle Bohnen und alles Guineakorn von seinen Farmen. Er ließ all das kochen und zubereiten. Er setzte es dem Waisenkinde vor. Aber das Waisenkind ward nicht satt. Ahun gab ihm alles, was er hatte, aber der Bauch des Waisenkindes war nicht zu füllen. Dann rief Ahun seine ganze Familie zusammen und sagte: "Kommt, wir wollen diesem Waisenkinde alles geben, was wir haben, und wollen sehen, ob sein Bauch voll werden wird." Seine Familie sagte: "Wir wollen es sehen." Sie brachten alles Essen von den Feldern und aus den Hütten und setzten es dem Waisenkinde vor. Das Kind aß alles, alles auf, was man ihm gebracht hatte, und sagte: "Ich bin noch nicht satt."

Da nahm Ahun den Waisenknaben mit sich in die Stadt und brachte ihn zum Osi. Ahun sagte zum Osi: "Hier ist ein Waisenknabe, dessen Bauch ist nicht zu füllen! Ich habe ihm alles gegeben, was auf meinen Feldern und in meinen Scheunen war. Er war nicht satt zu machen. Alle meine Angehörigen haben alles von ihren Feldern geholt und ihm zu essen gegeben, aber des Jungen Bauch ist nicht voll zu machen." Der Osi sagte: "Lasse mir den Jungen hier. Wir wollen sehen, ob wir ihm in der Stadt den Bauch auffüllen können." Der Osi rief alle seine Leute zusammen. Der Osi sagte: "Seht diesen Waisenjungen! Ahun und alle seine Angehörigen haben ihm alles gegeben, was sie an Jams, Bohnen und Guineakorn auf den Farmen und in den Speichern hatten. Dieser Waisenjunge hat alles gegessen, was sie besaßen. Sie haben aber seinen Bauch nicht füllen können. Nun macht viel Brei und Speise und seht, ob ihr den Jungen satt machen könnt." Alle Leute gingen hin. In der ganzen Stadt wurde aus Jams, Bohnen und Guineakorn Speise bereitet. Aus



Atlantis Bd_10-276 Flip arpa

allen Gehöften wurde die Speise und der Brei herbeigebracht. Der Waisenjunge aß alles, was sie ihm brachten. Als er alles gegessen hatte, sagte er: "Mein Bauch ist noch nicht voll!" Da holten die Leute alles herbei, was draußen auf den Farmen und in den Speichern war. Die Frauen neben und mahlten und kochten alle Töpfe voll, die sie hatten. Alles, was im Lande war, ward zubereitet und dem Waisenknaben hingesetzt. Der Waisenknabe aß alles, alles auf und sagte dann: "Mein Bauch ist noch nicht voll!"

Die Leute kamen zum Osi und sagten: "Wir haben für den Waisenjungen alles zubereitet, was wir in der Stadt, auf den Farmen und in den Speichern hatten. Es ist nichts übriggeblieben. Der Waisenjunge hat alles gegessen. Aber sein Bauch ist noch nicht voll geworden." Da sagte eine alte Frau: "Es ist nicht schwer, den Waisenjungen satt zu machen." Der Osi sagte: "Versuche es!" Die alte Frau nahm darauf den letzten, ganz kleinen Jams, der noch übrig war, und bereitete ihn. Es war eine Handvoll Jamsbrei. Dann kaufte sie für 4000 Kauri (= I Schilling, entspricht 3200 Kauri im Nupeland) roten Pfeffer. Der Pfeffer war eine Kalebasse voll. Sie setzte dies Gericht auf den Herd und kochte die eine Handvoll Jamsbrei mit der ganzen Kalebasse Pfeffer. Als es genug gekocht hatte, setzte sie das dem Waisenjungen vor. Der Waisenjunge aß es auf. Als er die Speise aufgegessen hatte, sagte er: "Mein Bauch ist voll!"

Der Waisenknabe hatte aber mittlerweile alles gegessen, was im Lande war. Es gab keinen Jams mehr, keine Bohnen mehr, kein Guineakorn mehr. Der Osi sagte: , ,Ahun hat uns diesen Burschen gebracht, der alles aufaß. Nun ist nichts mehr da zu essen. Das ist ein Geschenk Ahuns. Bringt Ahun her!" Die Leute gingen aus, Ahun zu fangen. Ahun aber entschlüpfte. Nun wollten sie den Waisenjungen fangen. Der Waisenjunge aber schlüpfte unter die Matte.

Wenn einer abends gegessen hat, ist er morgens wieder hungrig. Aber Omo-nekere-bete kroch unter die Matte und war nun nicht mehr hungrig.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt