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Kapitel 

DIE ATLANTISCHE GÖTTERLEHRE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1926

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



Atlantis Bd_10-000.4 Flip arpa

TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE

MIT EINER FARBIGEN TAFEL, 16 KARTEN

UND 87 ZEICHNUNGEN IM TEXT


10. Kapitel: Das Volk dichtet

Der afrikanische Erdteil hat nur zwei Gebiete der Kulturformen einer hohen Mythologie: Ägypten und Joruba. Ägypten ein Oasenland strenger Isolierung und harter Ausstilisierung, dazu als mythologisches eines der vergangenen. Joruba imWalde und Steppenland mit weiten Beziehungen und kulturellen Übergängen in das Hinterland, ein weiches Tropenland, noch heute eine hohe Mythologie archaischen Stiles bergend wenn auch wiederum ein afrikanisches Negergebiet.

In Joruba also ein Stil im Volksleben.
Ein Stil in Architektur und Kunst.
Ein Stil in der Götterlehre.

Und das gegenüber dem durch hundert Provinzen fast schleimig alles Spezielle verwaschenden afrikanischen Kontinentalstil, dem nur eben diese beiden Gruppen sich entziehen konnten: Joruba und das Land der Bakuba am Sankurru!

Da ist es selbstverständlich, daß die Dichtkunst des Volkes ebenfalls unser Interesse in Anspruch nehmen darf in der Aussicht, daß auch in ihr sich ganz spezielle Symptome ausgesprochener Stilbildung äußern müssen.



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Wenn die hier vorgelegte kleine Sammlung auch nicht im entferntesten den Anspruch darauf erhebt, das jorubische Gut an Volkserzählungen vollständig wiederzugeben, so dürfte das Typische dieser Kunst doch auch an diesem Bestande zuerkennen sein. Denn auch die vielen nicht aufgespeicherten, weit mangelhafteren Stücke boten gleiche Symptome.

Und da fällt denn zuvörderst der außerordentlich große Anteil auf, den Ahun, die Schildkröte, der tierische Fabelheld der Joruba, im Gesamtbau einnimmt. Ist unser Augenmerk erst nach dieser Richtung gewendet, so kann auch die zweite Tatsache uns nicht entgehen, daß nämlich Ahun viel mehr als in andern Fabuleien seine tierische Natur abgelegt hat. Ahun ist hier nicht nur der Listige und Schelm unter den Tieren. Ebenso selbstverständlich tritt er in der menschlichen Gemeinschaft auf, ist ein emsiger Bote zwischen den Menschen, tritt sogar in Gemeinschaft mit den Göttern. Ja, wir stoßen auf bedeutsame kosmogonische Motive. Ahun tötet den Vogel Orischas, er bringt die Geschlechter zusammen. Unser Märchen "Tischlein deck dich" verbindet Ahun mit dem Gotte Olokun. In dem Märchen von den drei erfüllten Wünschen wird die Sonne der Welt gegeben. Ahun wird vom Orischa als Stock benutzt und so weiter. Gewiß ist, daß bei der intensiven Verbindung des Alltagslebens mit dem Götterglauben die Götter naturnotwendig oft mehr als es für Erhaltung ihrer Erhabenheit



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wünschenswert wäre, in das Alltägliche herabgezogen werden und somit auch eines Tages in den Volkserzählungen Einzug halten konnten. Das Merkwürdige aber ist, daß die Orischas nur unter den Erzählungen und Märchen des 11. Kapitels ihren Platz haben, die sowieso motivmäßig in dem Geruch stehen müssen, aus einer hohen Mythologie zu stammen, daß sie sich aber in den das rein Menschliche behandelnden Stücken nicht eingebürgert haben.

Ahun, der tierische Fabelheld, hat also eine nähere Beziehung zum Götterkreise erreicht als die Menschheit des Alltags.

Diese beiden Erscheinungen, die für afrikanische Verhältnisse ungemein umfassende Wirkungsfläche der tierischen Fabelhelden und das Übergreifen dieses Ahun vorzüglich bis in die Götterlehre geben der Volksdichtung der Joruba eine besondere Bedeutung. Hierzu erläuternd und aufklärend tritt dann noch, daß Ahun, die Schildkröte, ein durchaus (eine Ausnahme wird an besonderer Stelle Erwähnung finden) westafrikanischer Fabelheld ist und ganz ausgesprochen dem atlantischen Kulturkreis zugehört.



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Zum andern möchte ich das Augenmerk auf einen die Erzählungen und Märchen charakterisierenden Zug lenken, der einen gewissen Kontrast zu den Beobachtungen des Alltagslebens im Jorubaland darstellt.

Aus der Beschreibung der Joruba als Menschen ist ersichtlich, daß dieses Volk keine besonders edlen Charakterzüge besitzt. Bei ungeheurer Klugheit verschlagen, boshaft, verlogen, gewinnsüchtig, roh bis zur Brutalität bei äußerer Geschmeidigkeit, Eleganz und großem Talent den Biedermann zu spielen. Wenn man nun die ersten der nachfolgenden Erzählungen und Märchen liest, tritt ein scharfer Gegensatz zu der Erfahrung des alltäglichen Lebens im Verständnis für das rein Menschliche im Sinne einer höheren Menschlichkeit hervor, das den Volkskenner geradezu erstaunt.

Das erste Stück vom "guten Mann" mag noch aufzufassen sein als eine sentenziöse Charakteristik, in der der Gute dem Schlimmen gegenübergestellt ist. Aber die Tatsache, daß ein so mildtätiger Mann überhaupt unter diesem Volke vorkommen soll, möchte den Kenner im ersten Augenblick verblüffen. Eine Erzählung wie die von der wiedergefundenen Tochter ist als liebenswürdiges Ideal in einem schweren Schicksalen unterworfenen Lande verständlich und wäre noch einzugliedern. Dagegen ist die lyrische Stimmung in der Geschichte von der ausgesetzten Henne stimmungsgemäß einfach der scharfe Gegensatz zu dem Charakterzug der klar berechnenden Nüchternheit, die echt jorubisch ist.

Es ist an dieser Stelle nur meine Aufgabe, auf das Merkwürdige dieser Erscheinung aufmerksam zu machen, ohne auf das bedeutungsvolle



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Problem, das sich hier wie in allen stilstärkeren Volksdichtungen aufdrängt, auf die merkwürdige Beziehung zwischen Charakter und Erzählung eines Volkes eingehen zu wollen. Jedenfalls ist soviel sicher, daß Volksdichtung nicht nur Spiegelbild des Volkstypus in psychischer Hinsicht ist.


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