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VOLKSERZÄHLUNGEN UND VOLKSDICHTUNGEN


AUS DEM ZENTRAL-SUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 2 KARTENBEILAGEN

117. Lebensentscheidung

Im Walde lebte ein armer Mann, der hatte drei Söhne und drei Töchter und nährte sich kümmerlich durch den Fang von Feld. ratten, die er für 80-100 Kauri auf dem Markte zum Essen verkaufte. Inder Stadt war aber ein reicher Mann, der hatte 400 Sklaven und viele Frauen, aber keine Kinder. Daher hänselten ihn die Leute und fragten ihn: "Wer soll alle deine Güter erben?" Auch der König fragte ihn eines Tages. Da antwortete der Reiche: "Ich habe einen Sohn im Walde.""Ich will ihm meine Tochter zur Frau geben," erwiderte der König. "Ich werde versuchen, meinen Sohn zu finden." 200 Reiter hatte der Reiche. Doch er befahl ihnen, zu Hause zu bleiben und ritt allein in den Wald. Am gleichen Tage war der arme Mann wieder mit seinen Söhnen ausgezogen, Ratten zu fangen und sagte zu ihnen: "Wer mir heute wieder die Ratten weglaufen läßt, den schlage ich tot!" Sie gruben an dem Bau der Ratte; plötzlich kam die Ratte heraus, und der Jüngste ließ sie entwischen. In der Wut nahm der Vater eine Axt und schlug den Sohn über den Schädel, daß er blutüberströmt zusammenbrach. "Laßt ihn,"sagte der Vater, "wir haben nichts mehr mit ihm zu tun." Sie gingen, und kurz darauf ritt der Reiche an der Stelle vorbei, sah den Knaben, wusch ihn, und da er ihm gefiel, kleidete er ihn in schöne Kleider und nahm ihn auf sein Pferd. Im nächsten Dorfe schickte er einen Boten an seinen Leibsklaven, ließ seine Reiter holen und ein gutes Pferd für seinen Sohn. Viele Trommler begrüßten den Sohn des



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Reichen und das Volk schrie: "Der Reiche hat seinen Sohn gefunden! Der Reiche hat seinen Sohn gefunden!" Der Reiche ließ seinen Sohn voranziehen mit allen seinen Leuten, und die Trommler schlugen für ihn die Trommeln. Der Jüngling begrüßte erst den König, dann wurde er in des Reichen Gehöft gebracht und erhielt dort ein schönes Haus. Drei junge Skiavinnen kamen, um ihn zu baden und zu massieren. 50 Sklaven und Pferde und alles, was er brauchte, sandte sein Vater, und die ganze Stadt freute sich mit dem Reichen über den gefundenen Sohn. Bald sandte auch der König seine Tochter mit zehn Sklavinnen. Die Tochter ging allein hinein zu dem Jüngling und setzte sich zu ihm auf sein Lager, und sie spielten zusammen, denn der Jüngling wußte noch nicht, was er mit dieser Frau anfangen sollte. Doch schon nach drei Tagen heiratete er das Mädchen. Es war ein großes Fest für die ganze Stadt, und der junge Mann war der beliebteste und mächtigste Mann nach dem König. Inzwischen ging der arme Mann überall umher und fragte, ob niemand seinen Sohn gesehen hätte. Endlich fand er heraus, daß sein Sohn der mächtigste Mann und der Schwiegersohn des Königs in der Stadt wäre. Er ging in die Stadt zu dem Alten und forderte seinen Sohn. "Komm herein und laß uns allein darüber sprechen," sagte der Reiche, "daß uns niemand hört. Komm mit deiner ganzen Familie her; ich will dir ein Gehöft und Farmen und Vieh geben. Doch du darfst den Leuten nichts erzählen, sonst muß ich mich schämen." Aber der arme Mann wollte nicht. Er ging zu seinem Sohn und fragte ihn: "Was willst du eigentlich in der Stadt? Sieh, früher kosteten die Ratten uns 100 Kauri; heute kosten sie 200. Dein Bruder hat sich bereits drei Schafe gekauft. Komm mit uns zurück in den Wald." Wieder kam der Reiche dazu und bat ihn, ihm doch den Sohn zu lassen. Der gab aber nicht nach, und so sagte der Reiche endlich: "Gut! Ich will dir deinen Sohn wiedergeben und euch heute nacht hinausbegleiten." Des Nachts zogen sie los. Vorn der arme Mann, dann der Reiche zu Pferde, dann der Sohn. Mitten im Busch machte der Reiche halt: "Ich will nun zurückkehren!" "Es ist gut, leb wohl," erwiderte der arme Mann. Da sprang der Reiche vom Pferd und hielt des Sohnes Hand: "Was willst du von ihm," fragte der Arme, "es ist doch jetzt wieder mein Sohn?" Der Reiche zog sein Schwert und gab es dem Jüngling: "Willst du zu deinem Vater gehen; gut, so töte mich. Willst du aber mit mir gehen, so töte deinen Vater; denn ohne dich will ich nicht in mein Haus zurückkehren."



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Mit dem bloßen Schwert stand der Jüngling zwischen den beiden Alten. Sollte er seinen Vater töten, der ihn erzogen, der ihn aber wegen einer Ratte beinahe erschlagen hätte? Dann würden die Leute sagen, daß er es des Geldes wegen getan hätte. Sollte er den Reichen erschlagen, der ihm geholfen und ihn reich gemacht hatte, um dann wieder Ratten für 200 Kauri zu fangen? Er wußte sich keinen Rat, und wenn die drei nicht gestorben sind, so stehen sie sicher heute noch da.


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