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VOLKSERZÄHLUNGEN UND VOLKSDICHTUNGEN


AUS DEM ZENTRAL-SUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 2 KARTENBEILAGEN

108. Die Eintagsfrau

Ein Jüngling ging zum Mauern in die arabische Schule. Als er heiraten wollte, sagte sein Lehrer zu ihm: "Wenn du dies Mädchen heiratest, wird sie am ersten Tage sterben; dann darfst du sie nur mit Hilfe dreier Männer begraben." Der junge Mann heiratete trotzdem, zog mit der jungen Frau hinaus ins Land. Nach einem Tag starb sie im Busch. Da kam eine Hyäne und sagte: "Das ist deine Eintagsfrau, die heute starb. Laß mich sie auffressen." Aber der Mann wollte nicht, und die Hyäne ging. Dann kam der Löwe und wollte auch die Leiche der Frau fressen; aber der Mann weigerte sich, und der Löwe ging und versteckte sich im Busch. Dann kam Mikia (großer Geier [?] mit weißem Schnabel, der eine rote Spitze hat; er reißt den gefallenen Tieren zuerst Augen und Herz aus). Dieser Geier kam geflogen, brachte einen Stern und ein Lei-a, das ist Koranspruch, zusammengefaltet, mit Faden umwickelt, legte beides ins Wasser und sagte dem Manne, er solle es seiner toten Frau einflößen. Da stand die Frau auf und lebte. Der Vogel sagte: "Bewahre diese Medizin auf. Ich komme nach einigen Tagen wieder."

Mann und Frau gingen in die Stadt zurück. Als sie dort ankamen, hörten sie Rufe: "Des Königs Mutter stirbt." Da sahen sie eine alte Frau und baten diese um Unterkunft. Die aber schrie die beiden an: "Hört ihr nicht, daß des Königs Mutter im Sterben liegt, und da kommt ihr wegen eines Obdachs?" Da sagte der Mann: "Gib mir einen Platz, wo ich meine Sachen lassen kann; dann will ich selbst zur Königin-Mutter gehen." Da nahm die Frau dem Manne die Sachen ab, führte ihn zum König und sagte: "Dieser Mann hat



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Medizin für deine Mutter." Da nahm der Mann die Medizin, tat sie in Wasser, flößte sie der Königin-Mutter ein und diese stand auf. Da sandte der König einen Boten, die Frau und die Sachen des Mannes zu bringen. Dazu gab er ihm ein gutes Haus, feine Kleider und machte ihn zum Doktor seines Landes.

Da starb des Königs Sohn, und auch diesen erweckte der Doktor mit seiner Medizin. Nach einiger Zeit starb der König, und der Doktor wurde gerufen. Er suchte seine Medizin und konnte sie nicht finden, denn seine Frau hatte sie heimlich gestohlen und ihrer Familie in der nächsten Stadt gebracht. Trotzdem suchte sie eifrig mit ihrem Mann. Als der Mann die Medizin nicht fand, nahmen ihn die Leute des Königs gefangen und banden ihn, weil er sie betrüge. Da kam ein Sklave, der aus der Familie der Frau des Doktors stammte, zu den Räten des Königs, und sagte: "Ich weiß, wo die Medizin ist, seine Frau hat sie versteckt, aber jetzt fürchtet sie sich, die Medizin zu bringen. Ich weiß das Versteck und werde sie holen." Der Sklave brachte die Medizin, der König erwachte vom Tode und machte nun seinen Sklaven zum Doktor. Der erste Doktor aber wurde weggejagt in die Farm, wo er sich sein kärgliches Brot selbst erarbeiten mußte. Seine Frau verließ ihn und ging zu dem jetzigen Doktor, der nun ein reicher Mann war.

Nach einem Monat kam Makia, der Geier, zu dem abgesetzten Doktor, der nur noch ein Skelett war, weil er so Schlimmes leiden mußte, und forderte seine Medizin. Da klagte der Mann sein Leid und erzählte, wie seine Frau ihn bestohlen und ins Unglück gebracht hätte. "Siehst du,"sagte der Geier, "das ist die Strafe. Damals wollten wir deine gestorbene Frau fressen, die Hyäne, der Löwe und ich, du aber wolltest es nicht. Nun hast du deine Strafe."

Dann ging der Geier zur Hyäne und sagte: "Meine Medizin ist verloren gegangen; suche und bringe sie mir, oder ich töte dich." Da lief die Hyäne zum Hund und sagte: "Die Medizin des Geiers ist verloren gegangen; suche und bringe sie mir, oder ich mache dich tot!" Der Hund lief ebenso zur Katze und forderte unter Todesandrohung die Medizin. Die Katze lief zu den Ratten und drohte, sie alle aufzufressen, wenn sie die Medizin nicht brächten. Da suchten die Ratten alle Medizin im ganzen Lande zusammen. Mehrere Ratten kamen auch zu dem Doktor; eine biß ihn in den Penis, eine in den Arm, eine in die Backe. Da ließ der Doktor die Medizin, die er in seinen Backentaschen aufbewahrte, fallen, und die Ratten liefen mit der Medizin davon und brachten sie mit der andern Medizin zur



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Katze, diese brachte die Medizin zum Hund usw., bis zum Geier. Am Morgen suchte sich der Geier seine Medizin heraus und verbrannte die andere. Dann flog der Geier zu dem ersten Doktor, gab ihm die Medizin wieder und sagte: "Nun bewahre sie auf, aber heirate die Frau nicht wieder."

Einige Zeit später starb der König wieder. Man rief den zweiten Doktor, der suchte seine Medizin und fand sie nicht; da lief er zum ersten Doktor und bat ihn um seine Medizin. Der sagte: "Laß mich! Ich habe keine Medizin!" Doch endlich ließ er sich erweichen, ging mit in des Königs Haus und erweckte ihn mit seiner Medizin. Da wurde der zweite Doktor aufgehängt. Der König hörte nun die Geschichte, wie die Frau ihrem ersten Mann die Medizin gestohlen und wollte sie hängen. Aber der Doktor sagte: "Um Gottes willen, laß sie leben!" Dann teilte der König sein Land und gab dem Doktor die Hälfte. Der Doktor brachte zuvor seine Frau zu ihrer Mutter zurück. Der erzählte er, wie er sein Weib vom Tode gerettet und wie sie ihm schlecht gedankt hätte. Da verstießen auch die Eltern die Frau, und diese starb im Busch, an demselben Platz, wie zum ersten Male.


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