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VOLKSERZÄHLUNGEN UND VOLKSDICHTUNGEN


AUS DEM ZENTRAL-SUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 2 KARTENBEILAGEN

107. Damatje goma (der Sohn der zehn Frauen)

Ein Mann hatte 10 Frauen, die waren alle schwanger. Im achten Monat gaben 9 Frauen ihre Leibesfrucht an die zehnte ab.



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Diese gebar aus den 10 Embryos einen Knaben. Als der Knabe groß war, sagte der Vater zu seinen 10 Frauen, er wolle von jeder eine Brust haben. Jede der Frauen schnitt sich eine Brust ab und brachte sie dem Manne. Der Mann verkaufte diese auf dem Markte und erhandelte dafür ein großes Pferd für seinen Sohn; so hatte der große Sohn ein großes Pferd. In dem Busch, weit von der Stadt, war eine böse Hexe, die fraß Menschen, und keiner traute sich dahin. Der Sohn des Mannes aber erbot sich, dahin zu gehen. Da höhnte die Spinne: "Wie, du junger Fant willst zu der Hexe gehen, wohin sich die stärksten Männer nicht trauen?" Der Jüngling bestieg sein großes Pferd, das mit Siebenmeilenstiefeln den 4 Monate langen Weg in 4 Tagen zurücklegte.

Er stand vor einem großen Hause, in dem eine große Frau stand, die hatte überall Münder. Sie hatte Münder auf der Brust und auf dem Rücken, Münder an Armen und Händen. Gerade hatte sie sich aus vier Menschen eine Suppe gekocht, in die tauchte sie einen Reisbesen (Bündel aus Reisstroh), fuhr sich damit über den Rücken und speiste so ihre vielen Münder. Als der Jüngling eintrat, verschwanden alle Münder, und die Frau war wie jede andere. Sie fragte: "Hast du mich gesehen?" "Nein," war die Antwort, "ich habe dich nicht gesehen." Bei der Hexe traf er eine leprakranke Frau, die fragte: "Warum kamst du? Weißt du nicht, daß die Hexe Menschen frißt ?" —"Ich weiß es; aber mein König sendet mich, und wenn ich sterbe, ist es gut!" — "Ich will dir einen Rat geben," sagte die Kranke. "Wenn die Hexe dir Essen bringt, iß nicht, wenn sie dir Wasser bringt, trink nicht! Solange es hell im Zimmer ist, schlafe nicht, denn es wird nur Nacht hier, wenn die Hexe schläft. Hier," fuhr die Kranke fort, "gebe ich dir zwei goldene Ringe, binde sie gut in dein Tuch, und gib sie, falls du heimkommst, deinem König."

Der Jüngling wollte nun sein Pferd absatteln, doch das fing an unwillig zu stampfen und zu wiehern; da ließ der Jüngling es gesattelt, auch nahm es kein Futter und kein Wasser. Als die Frau dem Reiter Essen und Trinken gab rührte er es nicht an. Nachts kam die Frau in des Jünglings Schlafraum; der räusperte sich und die Hexe fragte: "Willst du nicht zu mir kommen? Ich habe Feuer in meinem Raum, da ist es wärmer." Doch der Jüngling verneinte. Dreimal kam die Hexe. Dreimal traf sie den Burschen wachend. Da legte sich die Hexe selbst schlafen, indem sie dachte: "Ich will etwas schlafen, dann wird auch der Bursch schlafen und ich kann ihn mir holen. Bald war es ganz dunkel. Daran merkte der Reiter, daß die



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Hexe schlief. Er schlich hinaus und schwang sich aufs Pferd. Kurz darauf erwachte die Hexe, fand den Raum leer und rannte hinter dem Reiter her, ihn zu fangen. Als der Reiter die Hexe nahen sah, sagte er zu seinem Pferde: "Ich bin der Sohn von zehn Müttern. Jede mußte eine Brust opfern, damit Vater dich kaufte. Willst du mich im Stich lassen ?"

Da rannte das Pferd mit Siebenmeilenstiefeln in großen Sprüngen davon, die Hexe weit hinter sich lassend. Sie steckte aus Wut darüber den ganzen Busch an. Wieder bat der Bursche sein Pferd unter gleichen Worten: "Willst du mich verlassen?' Und wieder setzte das Pferd mit Riesensprüngen über den Busch, dem Brande entgehend. Als die Hexe dies merkte, ließ sie den Fluß anschwellen, der den Burschen von seiner Stadt trennte. Aber wieder half ihm das treue Tier. Mit einem mächtigen Satze sprang es über den Strom und erreichte mit dem Reiter seine Heimat.

Am nächsten Tage wurde der Bursche beim Könige empfangen, und viele Leute waren dabei. Als er seine Ringe abgegeben und die Geschichte erzählt hatte, kam auch die Spinne und höhnte: "Jetzt sagt er, er sei bei der Hexe gewesen. Fünf Tage hat er sich bei den Weibern seiner Freunde herumgetrieben. Wenn es wahr ist, so soll er mit mir noch einmal hingehen."

Der Jüngling willigte ein und schwang sich aufs Pferd. Die Spinne holte eine Schildkröte und sagte: "Dies ist mein Pferd!"Bald ging das dem Reiter zu langsam; er nahm Spinne und Schildkröte aufs Pferd und fort stürmte der Renner in Riesensätzen, trotz der kläglichen Angstschreie der Spinne. Am vierten Tag kamen sie vor der Hexe Haus.

Als sie eintraten, war die Hexe gerade wieder beim Essen beschäftigt, indem sie ihre vielen Münder, die immer riefen: "Ich habe noch nichts! Ich habe noch nichts!" mit dem Besen aus Reisstroh mit Menschenfleischsuppe fütterte. Die Hexe fragte: "Habt ihr mich gesehen?" "Nein", sagte der Bursche. "Ja," sagte die Spinne; "ich habe gesehen, wie du deine Münder füttertest." — "Es ist gut", erwiderte die Hexe und gab ihnen ein Zimmer.

Da kam die Leprakranke und fragte den Reiter: "Warum kommst du wieder?" "Die Spinne wollte es!" Die Kranke gab ihm nun zwei Stäbe aus Gold, die versteckte er sorgfältig unter seinem Sattel. Dann belehrte der Jüngling die Spinne, wie er von der Kranken belehrt worden. Die aber fragte: "Warum soll ich nicht essen? Dir gab der König viel Essen mit; meines aber ist seit zwei Tagen alle. Du hast mir nichts zu sagen!"



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Die Hexe brachte Essen und Trinken, der Reiter rührte es nicht an, aber die Spinne und die Schildkröte taten sich gütlich daran. Nachts, als die Dunkelheit zeigte, daß die Hexe schlief, machten sich der Reiter, die Spinne und die Schildkröte auf den Weg.

Bald war die Hexe hinter ihnen, und die Spinne begann kläglich zu schreien. Da nahm der Reiter sie zu sich aufs Pferd, die Schildkröte zurücklassend, und fort ging es in wilden Sprüngen. Am nächsten Tage erschienen sie vor dem Könige, und die Spinne sagte: "Jetzt ist er wirklich dagewesen, die goldenen Stäbe bezeugen es auch."

Der König belohnte den Tapferen, der die Hexe nun vertrieben hatte, mit der Hälfte all seiner Besitztümer.


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