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VOLKSERZÄHLUNGEN UND VOLKSDICHTUNGEN


AUS DEM ZENTRAL-SUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 2 KARTENBEILAGEN

83. Die Dichtung des Blinden

Im Lande Asben, nach anderen im Lande Sinder, jedenfalls weit im Norden der Haussaländer, dort, wo die Sahara übergeht in das fruchtbare Ackerland, da lebte der Sage nach einst ein König, der hatte allen Reichtum genossen, den die Erde bot. Er hatte die schönsten Frauen besessen. Die herrlichsten Gebäude waren ihm zu eigen. Er und seine Leute waren gekleidet in wertvolle Stoffe. Seine Köche richteten ihm tagtäglich neue und reizvolle Speisen her. Das währte sehr lange, und der König hielt sich für den reichsten Herrscher dieser Erde. Eines Tages nun - so erzählt die Sage wußte er nichts zu beginnen, was ihm Freude bereitete. Er rief seine Höflinge zusammen und fragte sie nach etwas, was ihm Unterhaltung gewähren könnte. Die einen rieten ihm, sich ein Mahl richten zu lassen, die andern, einen Krieg zu unternehmen, die dritten, ein Tanzfest zu veranstalten, die vierten, schöne Frauen an den Hof kommen zu lassen usw. Er war aber dessem allen überdrüssig und sagte: "Ihr seid alle töricht mit euern Ratschlägen; denn dieses alles kenne ich zur Genüge." Der König hatte aber nach Art der Haussakönige einen Narren an seinem Hofe, und dieser Narr sah eine Weile zu, wie die andern Höflinge dem Herrscher Vorschläge machten, die ihm nicht zusagten. Der Narr sah, daß der König allmählich immer ärgerlicher wurde, und als er bemerkt hatte, daß der Zorn des Königs den Höhepunkt erreicht hatte, da lachte er und sagte: "Mein lieber, großer Bruder, wer von uns beiden ist der Narr? Fast möchte ich meinen du selbst bist es. Wenn du nicht weißt, wie du dich unterhalten sollst, so laß doch die andern sich mühen mit der Auffindung von Erlebnissen. Du scheinst ja am meisten erlebt zu haben von allen, so daß du jetzt allem, was die Erde bietet, überdrüssig bist. Nun sieh doch zu, ob du nicht einen findest, der doch noch mehr erlebt hat, so daß du von ihm lernest, deine ruhelosen Stunden auszufüllen."

Dem König sagte dieser Vorschlag zu und er gab Anordnung, daß jeder aus seinem Leben berichten sollte, was er gesehen und schätzen gelernt habe. Er setzte einen hohen Preis aus, der dem zukommen sollte, welcher mit der Erzählung seiner Erlebnisse ihm die größte Freude bereiten könne. Hierauf begannen nun die Höflinge ihre Geschichten zu erzählen. Sie erzählten von Wanderungen und Fahrten in anderen Ländern. Sie erzählten von fröhlichen Festen und Kriegen. Sie erzählten von ihren Vätern und Großvätern. Sie erzählten von allem, was sie an Lustigem und Fröhlichem sich denken konnten,



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und was nach ihrer Ansicht dem König Vergnügen bereiten konnte. Der König hörte sie alle an. Als der Jerima (Thronfolger) und der Galadima (oberster Staatsbeamter) und alle die andern Fürsten und großen Herren ihre Geschichten erzählt hatten, sagte er: "Es ist keiner unter euch, der mehr gesehen und erlebt hätte als ich. Ich wüßte deswegen nicht, wem ich mein Geschenk überreichen sollte." Es waren alle anwesenden Leute still. Alle schwiegen. Niemand sagte etwas. Alle fürchteten, daß der Zorn des Königs wieder ausbrechen würde. —An der Schwelle des großen Hauses, in dem der König mit seinen Fürsten saß, hockte ein armer alter Blinder. Als nun alle schwiegen und niemand das Schweigen zu unterbrechen wagte, hob er das Antlitz, öffnete den Mund und sagte: "Von allen denen, die hier im Hause sind, hat niemand gelebt!" —Der König hörte das. Der König sah erstaunt zu dem Blinden und ließ ihn heranführen. Er fragte ihn, wie er zu diesem Ausspruch komme. Der Blinde sagte: "O, König, alle diejenigen, die reich sind und die vor vollen Schüsseln sitzen, alle diejenigen, die immer treten und nie gestoßen werden, alle diejenigen, die nur von den Handlungen ihrer Väter und von glücklichen Mußestunden und siegreichen Gefechten und von den vergnüglichsten Reisen erzählen können, alle diejenigen haben nichts erlebt und können nichts sehen. Sehen und leben tun nur die, die unter die Hufe der Pferde der Könige, der Fürsten, der Kaufleute und der Soldaten kamen, nur die, denen Gott das Augenlicht versagt hat. Wir Blinden sind die Könige des Lebens, und wenn du etwas aus dem Leben wissen willst, so frage uns."

Der König sagte darauf zu dem Blinden: "Dann erzähle mir etwas was du erlebt hast." Der Blinde begann zu erzählen. Er erzählte vom Morgen bis zum Abend. Der Blinde fuhr am andern Morgen fort zu erzählen und erzählte wiederum bis zum Abend. Der Blinde erzählte einen Monat lang und dann sagte er: "Nun, König, laß mich gehen! Laß mich mein Haus aufsuchen und eine Weile ausruhen; denn siehe dadurch, daß ich das alles erzählt habe, was du nun gehört hast, bin ich schwermütig geworden und des Lebens überdrüssig!" — Der König dachte nach. —Der König blieb eine Zeitlang stillschweigend sitzen; dann aber legte er die Hand vor das Antlitz und begann zu weinen. Der König sagte: "Wahrlich, unter allen, die hier sind, ist der Blinde der König des Lebens. Ihm will ich den Preis geben!"

So ungefähr lauten in verschiedenen Variationen die Einleitungen zu der Sammlung von Geschichten, welche besonders begabte Haussaerzähler unter dem Namen "Makapho", d. h. "der Blinde", berichten.



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Diese Erzählungen sollen im Nordiande der Haussaländer oder im Südlande der Sahara ihre Heimat haben, und zwar streiten sich verschiedene Staaten um das Vorrecht der Urheberschaft. Die Legenden sollen sehr alt sein, und verschiedene Phrasen, die darin vorkommen, sind in der Erzählung so stark verworren, haben also das häufig Wiedererzählte so stark abgeschliffen, daß sie den Erzählern selbst nicht mehr vollkommen verständlich und wörtlich übersetzbar sind. Ich selbst erhielt solche Legenden in der Nupestadt Bida (englisch Nord-Nigerien) und in dem großen Kreuzungspunkt Lokodja. Ich habe die betreffenden Namen, die auch den Eingeborenen nicht ganz wörtlich übersetzbar erschienen sondern nur noch dem Sinn nach verständlich waren, in den Ausdrücken wiedergegeben, wie ich sie phonetisch verstanden habe. Es sind das z. B. die Namen der Sklavinnen der Karua, von denen die Leute mir übereinstimmend sagten, sie verständen eigentlich nur den Sinn, nicht aber die direkte Übersetzung. Noch schwieriger war die Übersetzung in einzelnen Teilen der dritten Legende, vom Goru, in der offenbar der rhythmische Klang der Trommeln und Instrumente nachgeahmt war und der die ursprüngliche Bedeutung stark beeinflußt hatte. Da wir hier hauptsächlich den Sinn der Legenden zu behandeln haben, glaubte ich im speziellen absehen zu können von ethymologischen Erklärungen.

Im übrigen stellen die nachfolgenden Legenden vom Makapho mit das Bedeutendste an Erzählungskunst dar, das die afrikanische Erde wenn nicht hervorgebracht (was ich fast annehmen möchte) — so doch in originellster Form erhalten hat.


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