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VOLKSERZÄHLUNGEN UND VOLKSDICHTUNGEN


AUS DEM ZENTRAL-SUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 2 KARTENBEILAGEN

73. Die biblische Legende von Joseph in Agypten*

Ein Mann heiratete zwei Frauen. Die erste Frau gebar zwei Kiner, zwei Knaben. Der Ältere hieß Jesufu, der Jüngere Sule Manu. Die zweite Frau gebar zwei Kinder, zwei Knaben. Der Ältere hieß Djibirilu, der Jüngere Jakubu. Djibirilu war älter als Jesufu. Der Vater liebte Jesufu ganz außerordentlich. Eines Tages sandte der Vater Djiribilu und Jakubu in ein anderes Land. Sie sollten da Korn einkaufen. Die beiden Brüder zogen hin. Sie kauften Korn. Sie brachten das Korn dem Vater. Der Vater sagte: "Geht noch einmal in jenes andere Land und kauft Korn."Die Brüder sagten: "Wir können nicht wieder gehen, wir sollen immer gehen. Weshalb schickst du nicht Jesufu? Jesufu ist noch nie fortgegangen!" Der Vater sagte: "Es ist gut! Dann sollen alle vier Brüder miteinander gehen." Alle vier Brüder machten sich auf den Weg. Sie gingen weit fort.

Als sie weit fortgegangen waren, sagten die anderen Brüder zu Jesufu: "Geh den Weg dort. Du wirst zu einem Brunnen kommen. Schöpfe uns Wasser aus dem Brunnen und bringe es."Jesufu ging den Weg. Er schöpfte Wasser. Er brachte es. Die Brüder tranken und sagten: "Es ist gut! Geh noch einmal!"Jesufu nahm die Kalebasse und ging noch einmal dahin. Die anderen Brüder folgten ihm heimlich. Als er am Brunnenrand stand, stießen ihn die anderen, so daß er nach vorn in den Brunnen hinabstürzte. Der Brunnen war sehr tief. Die Brüder sagten: "Der ist nun tot!" Dann zogen die Brüder weiter. Sie kauften das Korn ein. Sie machten sich auf den Heimweg. Sie kamen wieder nach Hause. Sie sagten zu ihrem Vater: "Eines Nachts ist Jesufu weggegangen. Er kam nicht wieder. Es



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waren in jenem Busch sehr viel Hyänen. Ob die Hyänen ihn genommen haben?" Der Vater weinte. Die Mutter weinte. Der Vater und die Mutter Jesufus weinten so, daß sie nicht mehr sehen konnten.

Jesufu war ganz unten in dem Brunnen. Jesufu war nicht gestorben. Jesufu lebte drei Jahre lang in dem Brunnen. Eines Tages kamen Haussaleute vorbei. Die Haussa lagerten in dem Busch. Die Haussaleute gingen zu dem Brunnen, um Wasser daraus zu schöpfen. Sie banden eine Kalebasse daran und ließen sie herab. Als die Kalebasse unten bei Jesufu ankam, hängte sich Jesufu an sie. Die Haussa sagten: "Was ist so Schweres daran?" Die Haussa zogen die Kalebasse mit Jesufu herauf. Die Haussa sagten: "Wir haben einen Sklaven im Brunnen gefischt."

Die Haussa schnitten Jesufu die Haare. Jesufu mußte ihnen nun als Sklave die Kühe hüten. Drei Jahre hütete Jesufu als Sklave die Kühe. Dann kamen die Haussa mit ihrem Sklaven Jesufu in eine große Stadt. Der König sah den Jesufu. Der König sagte zu den Haussa: "Ich will euch diesen Sklaven abkaufen." Der König kaufte Jesufu und setzte ihn als Diener in sein Haus. Drei Jahre lang war Je-' sufu der erste Hausdiener des Königs. Die Naina Daki (erste Frau) des Königs liebte Jesufu. Eines Tages brachte Jesufu Wasser in das Haus der Naina Daki. Die Naina Daki sagte zu ihm: "Komm zu mir!"Jesufu ging zu ihr. Die Naina Daki sagte zu ihm: "Beschlafe mich!"Jesufu sagte: "Nein, das tue ich nicht. Darf ein Sklave die Frau seines Herrn beschlafen ?" Die Naina Daki wollte ihn festhalten. Jesufu wollte fortlaufen. Die Naina Daki faßte Jesufu beim Nacken am Kleid, um ihn zu halten. Das Kleid zerriß am Nacken. Jesufu floh von dannen.

Der König fragte Jesufu: "Wo warst du so lange? Was hast du so lange im Hause meiner ersten Frau gemacht?"Jesufu sagte: "Ich brachte Wasser hin und sonst habe ich nichts getan." Die Naina Daki hörte, daß der König Jesufu gefragt hatte. Sie kam zum König und sagte: "Du hast einen schlechten Hausdiener. Jesufu verfolgt mich überall. Heute kam er zu mir und wollte mich beschlafen!" Der König sagte: "Und wie ist es dann verlaufen?" Die Naina Daki sagte: "Ich wehrte mich und zerriß ihm dabei das Kleid!" Der König rief Jesufu. Er sagte zu Jesufu: "Zeige mir dein Kleid!" Jesufu zeigte sein Kleid. Der König sagte: "Meine Naina Daki, du hast recht. Dies Kleid ist zerrissen. Die Dogari (Polizisten) sollen ihn fortführen." Die Dogari nahmen Jesufu gefangen und brachten ihn fort.



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Jesufu ward vor den Alkali geführt. Der Alkali fragte: "Wie war diese Sache?" Die Naina Daki sagte: "Dieser Mann verfolgte mich überall. Gestern kam er zu mir und wollte mich beschlafen. Ich wehrte mich und zerriß ihm dabei das Kleid. Dann ging ich zum König und habe ihm alles berichtet." Der Alkali fragte Jesufu: "Was hast du hierzu zu sagen?" Jesufu sagte: "Ich habe der Naina Daki nichts getan. Mehr will ich nicht sagen, denn dies ist die Naina Daki des Königs, von der niemand etwas Schlechtes sagen soll." Der Richter fragte den König: "Wo war das Kleid zerrissen?" Der König sagte: "Das Kleid war hinten am Nacken zerissen." Der Alkali sagte: "Wenn das Kleid vorn und an einer anderen Stelle zerrissen wäre, könnte ich etwas gegen diesen Jesufu tun. So aber habe ich mit dem Manne nichts zu tun. Denn Jesufu ist nicht schuldig!"

Der König warf aber Jesufu doch in das Gefängnis. Im Gefängnis wurde Jesufu mit drei anderen Leuten zusammen eingeschlossen. Jesufu schlief im Gefängnis. Einer der drei anderen sagte zu Jesufu: "Ich habe in dieser Nacht geträumt!"Jesufu fragte ihn: "Was hast du geträumt?" Der Mann sagte: "Als ich träumte, saß ein Geier auf meiner Brust."Jesufu sagte: "Wenn du aus dem Gefängnis kommst, wird dich der König töten lassen!" Der zweite sagte: "Mir hat geträumt, des Königs Haus brenne."Jesufu sagte: "Der König wird dich frei lassen und dir Gutes erweisen. "Der dritte sagte: "Mir hat auch geträumt! Mir träumte, der König würde mich frei lassen!"Jesufu sagte: "Der König wird dich frei lassen. Später wird er dich aber wieder einfangen!"

Am anderen Tag wurde der erste der drei Männer getötet, der zweite aber freigelassen. Der zweite ging zum König. Der König erwieß ihm Gutes. Der zweite sagte zum König: "Im Gefängnis ist ein Mann namens Jesufu, der kann Träume erklären. Es ist ein Traumdeuter (sanaquenajena; Haussa =Mutum Wanga asrani moforiki; Deutsch =Mann er kann Träume; ganz wörtlich im Nupe =esa sana que ena). Der König sagte: "Bringt mir den Jesufu her!" Die Leute brachten den Jesufu. Der König sagte: "Die Leute sagen, du wärest ein Traumdeuter. Kannst du mir sagen,was mit mir geschehen wird?" Jesufu sagte: "Deine Zeit ist bald abgelaufen. Du wirst bald sterben." Der König ward nach einiger Zeit krank, dann starb er. Die Leute kamen zu Jesufu und sagten: "Der König ist gestorben, wie du es vorhergesagt hast. Kannst du uns noch etwas sagen ?"Jesufu sagte: "Im nächsten Jahre wird das Korn sehr teuer werden, daß man keines wird kaufen können!"



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Die Leute wollten den Saba zum König machen. Der Majaki sagte aber: "Macht nicht den Saba zum König. Wir werden eine schwere Zeit haben. Macht den Traumdeuter zum König!" Darauf machten sie Jesufu zum König. Es war eine schlechte Zeit. Niemand hatte zu essen. Der König Jesufu ließ sein Bett in seine Katamba setzen. Die Katamba lag am Marktplatz. Von seinem Bett aus konnte der König Jesufu nun alles sehen, was sich auf dem Marktplatz ereignete. Er ordnete an, daß alles Korn auf diesem Marktplatz zum Handel gebracht würde.

Jakubu, Sule Manu und Djibirilu kamen auf den Marktplatz. Ihr Vater hatte sie geschickt, Korn einzukaufen. Jesufu lag auf dem Bett in seiner Katamba (Durchgangshaus), als die drei Brüder auf den Marktplatz kamen. Die drei Brüder wußten aber nicht, daß Jesufu inzwischen König geworden war. Jesufu sah Sule Manu. Jesufu sagte zu seinen Leuten: "Ruft mir diesen Mann!" Die Leute riefen Sule Manu zum König. Der König Jesufu fragte Sule Manu: "Was willst du hier ?" Sule Manu erkannte seinen Bruder nicht. Sule Manu sagte: "Unser Vater sandte uns hierher. Wir sind drei Brüder. Im Lande meines Vaters gibt es nichts zu essen. Wir sind hierher gekommen, um Korn zu kaufen."

Jesufu sagte: "Ich will euch Korn mitgeben. Wenn es eurem Vater mangelt, soll er von uns, die wir in einem reichen Lande wohnen, erhalten."

Jesufu ließ seinen Brüdern Häuser geben. Er ließ mehrere Lasten mit Korn packen. In eine Last steckte er seinen Ring hinein. Als er die Lasten gepackt sah, sagte er zu seinen Brüdern: "Dies ist euer Korn. Bringt es in euer Land! Bringt es eurem Vater!" Die drei Brüder packten die Lasten auf. Sie erkannten ihren Bruder nicht. Sie zogen mit ihren Lasten nach Hause. Sie kamen nach Hause. Der Vater fragte: "Habt ihr das Korn mitgebracht?" Sule Manu sagte: "Der König war sehr gut zu uns. Er gab uns Häuser; er sandte uns Essen; er schenkte uns das Korn. Wir brauchten es nicht zu bezahlen." Der Vater sagte: "Öffne einen Ballen; ich will das Korn sehen! Die Brüder öffneten einen Ballen.

Der Vater hatte soviel geweint, daß er nicht mehr sehen konnte. Der Vater führte jede Sache, die er kennenlernen wollte, an die Nase. Der Vater griff in die Kornlast mit der Hand. Mit dem Finger fühlte er den Ring. Er zog den Ring heraus. Er sagte: "Was ist das? Was ist in dem Korn hier?" Er führte den Ring an die Nase und roch an ihm. Er sagte: "Das ist Jesufu! Das ist der Geruch Jesufus! Dieser



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Ring muß von Jesufu kommen!" Der Vater führte den Ring an die Augen. Als er den Ring an den Augen hatte, konnte er wieder sehen. Der Vater rief Jesufus Mutter. Jesufus Mutter führte den Ring zur Nase. Sie sagte: "Dieser Ring kommt von meinem Sohn Jesufu." Die Mutter führte ihn an die Augen. Sie konnte sehen. Sie sagte: "Das ist der Ring meines Sohnes Jesufu. Ich gab ihn ihm, ehe er mit seinen Brüdern wegzog." Der Vater fragte Sule Manu: "Wie war der König zu dir?" Sule Manu sagte: "Er weinte." Die Mutter sagte: "Dieser König muß mein Sohn Jesufu sein." Der Vater sagte: "Wir wollen hingehen und ihn sehen."

Der Vater Jesufus, die Mutter Jesufus und die Brüder Jesufus machten sich auf den Weg. Sie kamen zu der Stadt des Königs Jesufu. Jesufu ließ sich auf seinem Bette alle fünf Tage zum Markte hinaustragen und sah dem Volk und Handel zu. Der König ließ wieder sein Bett zum Markte hinaustragen. Alle Leute sahen ihn. Sein Vater sah ihn. Seine Mutter sah ihn. Beide liefen auf ihn zu und sagten: "Das ist unser Sohn Jesufu." Der König sagte: "Kommt mit in das Haus!"

Im Hause erzählte Jesufu seinem Vater und seiner Mutter alles. Er erzählte, wie die Brüder ihn in den Brunnen geworfen hatten. Er erzählte, wie er König geworden war. Er sagte: ,,Nun kehrt erst nach Hause zurück, packt alle eure Sachen und kommt in meine Stadt, um bei mir zu wohnen." Der Vater und die Mutter Jesufus taten so. Als sein Vater fortging, sagte er zu ihm: "Ich bitte dich, daß du meinen Brüdern nichts antust, wenn sie mir auch Schlechtes getan haben." —


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