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VOLKSERZÄHLUNGEN UND VOLKSDICHTUNGEN


AUS DEM ZENTRAL-SUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 2 KARTENBEILAGEN

71. Das strahlende Mädchen

Ein Mann heiratete eine Frau. Die Frau ward schwanger. Die Frau gebar an einem Freitag. Das Kind war ein Mädchen, das hatte gleich ein sehr schönes Kleid an, das mit Gold gewebt war. Das Kind hatte goldene Ketten um den Hals und goldene Ringe an Armen und Füßen. Nach der Geburt starb aber die Frau.



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Als die Mutter des Kindes mit dem schönen Kleid gestorben war, nahm der Vater das Kind auf den Arm und lief mit ihm fort in die Farm. Der Mann baute ein Haus. Der Mann kaufte Milch von den Fullani und gab dem Kinde diese Milch. Denn die Mutter war gestorben. Der Mann baute um das Haus eine hohe Mauer. Er baute in die Mauer sieben Durchgänge, Hallen (Katamba) hintereinander. In jeder Katamba war ein starkes Tor. In der Mitte des Gehöfts war das Haus, in dem das Mädchen mit dem schönen Kleid wohnte und auf einem goldenen Bett schlief.

Wenn der Vater morgens aufbrach, um zur Farmarbeit zu gehen oder um Essen zu kaufen, so öffnete er die sieben Tore, ging hinaus und sagte: "Suturagau! Suturagau! Suturagau!" (Schließe dich! Schließe dich! Schließe dich!) Dann schlossen sich die sieben Tore hinter ihm. Kam der Vater abends von der Farmarbeit oder vom Einkauf zurück, so sagte er: "Gaffara! Gaffara! Gaffara!"(Öffne dich! Öffne dich! Öffne dich!) Dann öffneten sich die sieben Tore. Er ging hinein. Er schloß die Tore von innen. Er rief das Mädchen seiner verstorbenen Frau. Das Mädchen kam in seinem schönen Kleide. Sie aßen zusammen. Das Mädchen wuchs heran. Es wurde groß. Es war sehr schön.

In der Nähe des Gehöftes, in dem das schöne Mädchen lebte, war ein Sumpf (Ewoa; Haussa =Fadama; Joruba=Abata). Ein Pferdejunge des Etsu Jiri (angeblich Vater des Etsu Masus) kam zu dem Sumpfe und wollte da das Gras schneiden für das Pferd des Königs. Der Pferdejunge sah über den Büschen einen hellen Schein oder Glanz (Aske; Haussa =Aske; Joruba =N'dan). Es war ein Strahlenschein wie der der Sonne. Der Pferdejunge sagte: "Was ist das für ein Strahlenschein?" Er ging durch die Büsche darauf zu. Er kam an die hohe Mauer. Er sah die Katamba. Sie war geschlossen. Er ging rundherum um die Mauer. Er sah, daß der Glanz von einem Hause ausging, das mitten im Gehöft lag.

Der Pferdejunge ging nach Hause. Der Pferdejunge ging zu einem Sentelli (Boten; Haussa =Adjia; Joruba lilari) des Königs und sagte: "Ich kam im Busch an einen kleinen Sumpf. Ich wollte Gras für die Pferde schneiden. Ich sah über den Büschen einen hellen Glanz. Ich ging dem Glanz nach und kam an ein Gehöft, das mit einer hohen Mauer und festen Toren geschlossen ist. Der Strahlenglanz ging von einem Hause in der Mitte des Gehöftes aus." Der Sentelli sagte: "Die Sache ist ungewöhnlich; ehe ich sie aber dem König berichte, will ich sie selbst sehen."



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Der Sentelli ging am Mittag in die Farmen. Er kam in den Busch. Er kam an den kleinen Sumpf. Er sah den Strahlenglanz über den Büschen. Er ging auf den Strahlenglanz zu. Er kam an die hohe Mauer. Er ging um die hohe Mauer herum. Er kam an den starken, geschlossenen Toren der Katamba vorbei. Er sah, daß alles gut verschlossen war. Er sah, daß der Strahlenschein aus der Mitte des Gehöftes kam. Der Sentelli versteckte sich in einem Gebüsch nahe dem Tore der Katamba.

Als es Abend war, kam der Vater heim von der Farm. Der Sentelli sah ihn. Der Vater rief: "Gaffara! Gaffara! Gaffara!" Der Sentelli hörte es. Der Vater ging hinein. Der Sentelli sah es. Der Vater rief das Mädchen zum Essen. Der Sentelli hörte es. Der Sentelli legte sich unter dem Busch nieder und blieb die Nacht über draußen. Am anderen Morgen kam der Vater aus dem Gehöft und rief :"Suturagau! Suturagau! Suturagau!"Der Sentelli hörte es. Die Türen schlossen sich. Der Sentelli sah es. Der Vater ging in die Farm. Der Sentelli lief in die Stadt.

Der Sentelli lief zu dem König. Der Sentelli sagte zu dem König: "In dem Busch, nahe einem kleinen Sumpf, hat ein Mann ein Gehöft gebaut und mit hohen Mauern und starken Katamben umschlossen. In dem Gehöft hat er die Tochter seiner verstorbenen Frau eingeschlossen, von der geht ein Strahlenglanz aus wie von der Sonne. Morgens verläßt er sein Gehöft und schließt es hinter sich. Abends kommt er zurück und öffnet es durch Zuruf. Ich weiß, wie er es öffnet und schließt." Der König sagte: "Bringe mir das Mädchen, von dem der Strahlenglanz ausgeht, und ich will dir viele Geschenke geben." Der Sentelli sagte: "Ich werde es tun."

Der Sentelli bestieg sein Pferd. Er ritt zu dem kleinen Sumpf heraus. Er versteckte sein Pferd im Gebüsch an dem kleinen Sumpf. Dann ging er zu dem Gebüsch am Eingang der Katamba. Er blieb die Nacht über in dem Gebüsch am Eingang der Katamba liegen. Am anderen Morgen öffnete der Vater des Mädchens die Tore. Er trat heraus. Er rief: "Suturagau! Suturagau! Suturagau!" Er ging von dannen in die Farm. Der Sentelli hörte es.

Als der Vater fortgegangen war, trat der Sentelli aus dem Gebüsch. Der Sentelli trat vor die Tore in der Katamba und rief: "Gaffara! Gaffara! Gaffara!" Die Tore öffneten sich. Der Sentelli ging hinein. Der Sentelli ging durch das erste Tor; der Sentelli ging durch das zweite Tor; der Sentelli ging durch das dritte Tor; der Sentelli ging durch das vierte Tor; der Sentelli ging durch das fünfte Tor; der



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Sentelli ging durch das sechste Tor; der Sentelli ging durch das siebente Tor. Der Sentelli stand im Gehöft. Vor ihm stand ein Haus, aus dem strahlte nach allen Seiten der Glanz. Der Sentelli ging auf das Haus zu. Der Sentelli öffnete die Türe. Der Sentelli trat ein.

In dem Hause stand ein goldenes Bett. Auf dem Bette lag ein erwachsenes Mädchen, von dem ging der strahlende Glanz aus. Das Mädchen schlief. Das Mädchen war schön. Das Mädchen war mit einem Kleid bedeckt, das war mit Gold gewebt. Das Mädchen hatte goldene Ketten um den Hals und goldene Ringe an Armen und Füßen. —

Der Sentelli ging auf das Mädchen zu. Er hob es auf. Er trug es fort. Er ging mit dem Mädchen aus dem Haus, über den Hof, durch die sieben Tore. Der Sentelli rief: "Suturagau! Suturagau! Suturagau!" Die Tore schlossen sich hinter dem Sentelli.

Der Sentelli trug das Mädchen zu dem kleinen Sumpf, wo sein Pferd angebunden war. Er band das Pferd los. Er sprang mit dem Mädchen im Arme darauf. Er ritt von dannen. Er ritt mit dem Mädchen nach der Stadt Etsu Jiris. Er kam daheim an. Er stieg vom Pferd. Er trug das Mädchen in das Haus des Königs.

Der König sah das Mädchen. Der Glanz strahlte von dem Mädchen aus. Der König rief die Naina Daki. Der König sagte zur Naina Daki: "Dieses Mädchen will ich heiraten. Sie soll die erste nach dir sein. Sorge für sie!" Die Naina Daki sagte: "Ich will es tun."Sie nahm das Mädchen mit zu sich. —

Der König schenkte dem Mädchen zehn Sklavinnen. Der König heiratete das Mädchen. Der König schenkte dem Sentelli, der das Mädchen gebracht hatte, Sklaven und Waffen.

Der Vater kam am gleichen Abend zu seinem Gehöft zurück. Von weitem sah er zu den Mauern. Es war kein strahlender Glanz zu sehen. Der Vater ging zu seinem Gehöft. Er rief: "Gaffara! Gaffara! Gaffara!" Die Tore öffneten sich. Der Vater ging zu dem Hause des Mädchens. Er sah hinein. Das goldene Bett war leer. Der Vater setzte sich auf das goldene Bett und weinte. Am anderen Tage nahm der Vater das goldene Bett auseinander. Er packte es in den ledernen Umschlag. Er nahm es auf den Kopf. Er ging in eine Stadt als Bettelsänger. Er sang an allen Ecken. Er sang an den Häusern der Vornehmen. Er suchte seine Tochter. Er fand sie nicht in der Stadt. Er sagte: "Meine Tochter hätte meine Stimme gehört. Meine Tochter hat mich nicht gerufen. Meine Tochter ist nicht in dieser Stadt. Ich



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werde weiter gehen. Ich werde von einer Stadt zur anderen gehen, bis ich meine Tochter gefunden haben werde."

Der Vater ging als Bettelsänger weiter. Er kam in eine andere Stadt. Er fand seine Tochter nicht. Er zog weiter. Er zog als Bettelsänger von einer Stadt zur anderen. In sieben Städten fand er nicht seine Tochter. Der Vater wanderte in Etsu Jiris Stadt. Der Vater sang in Etsu Jiris Stadt. Er ging als Bettelsänger vor Etsu Jiris Gehöft. Der Vater des Mädchens sang.

Etsu Jiri war bei seiner neuen Frau. Seine neue Frau lag auf dem Bett. Etsu Jiri saß vor dem Bette auf einer Matte. Die neue Frau richtete sich auf. Der König sagte: "Was ist denn?" Die neue Frau sagte: "Sei still!" Die neue Frau hörte den Gesang des Bettelsängers. Die neue Frau sagte: "Das ist mein Vater, der mich sucht! Ich muß meinen Vater sprechen!" Der König sagte: "Ich will für deinen Vater sorgen. "Der König ging hinaus. Der König sandte fünf Mann, den Vater seiner neuen Frau zu holen Er sandte Kleider und Pferde. Er ging in die Katamba und empfing den Vater. Er fragte den Vater: "Warum hast du deine Tochter im Gehöft versteckt?" Der König brachte den Vater zu seiner neuen Frau.

Der König gab dem Vater ein Haus. Er schenkte ihm zehn Sklaven und zehn Pferde und vier Frauen. Er forderte alle Leute auf: "Bringt meinem Schwiegervater täglich Essen! Bringt ihm viel Essen!"

Man soll seine Kinder nicht im Busch vor der Stadt verstecken.


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