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VOLKSERZÄHLUNGEN UND VOLKSDICHTUNGEN


AUS DEM ZENTRAL-SUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 2 KARTENBEILAGEN

35. Lieblose Eltern

Ein Mann heiratete eine Frau. Die Frau ward schwanger. Die Frau gebar ein Kind. Es war ein Knabe. Der Knabe ward Mama genannt. Der Mann heiratete eine zweite Frau, die war also die Nagi (jüngere Mutter) des Knaben. Als der Knabe größer ward, lief er überall dahin, wo Eko (Boxkampfspiel) geübt wurde. Er lief mit seinen Kameraden dahin. Einmal war er allein zum Eko in ein anderes Dorf gekommen. Als er zurückkam, war es Nacht. Eine Makundulu (Hyäne) lief hinter ihm her. Mama rannte so schnell er konnte heim. Er rannte zur Haustür seiner Mutter und rief: "Mach auf! Laß mich ein! Es ist etwas hinter mir!" Die Mutter antwortete von innen: "Ach was, geh weg! Was dich fangen will, mag dich fangen!" Mama rannte zur Haustür seines Vaters und rief: "Mach auf! Laß mich ein! Es ist etwas hinter mir!" Der Vater antwortete von innen: "Ach was, geh weg! Wer dich fangen will, mag dich fangen!" Mama rannte zur Haustür seiner Nagi (der zweiten Frau seines Vaters) und rief: "Mach auf! Laß mich ein! Es ist etwas hinter mir!" Die Nagi öffnete ihre Türe. Mama sprang hinein. Die Nagi fragte Mama: "Was war es?" Mama sagte: "Eine Makundulu verfolgte mich. Ich kam an meiner Mutter Haus. Ich rief sie an. Sie sagte: ,Geh weg! Mag dich fangen, was dich fangen will!' Ich kam an meines Vaters Haus. Ich rief ihn an. Er sagte: ,Geh weg! Mag dich fangen, was dich fangen will!' So kam ich zu dir!"

Am andern Tag packte Mama seine Sachen. Er verließ seinen Ort. Er ging in eine andere Stadt, die war sehr groß. Sie war so groß wie Bida. Mama ward Kaufmann. Er kaufte Waren. Er verkaufte Waren. Mama ward sehr wohlhabend. Er sandte Leute mit Waren nach anderen Städten. Er ließ Waren aus anderen Städten kommen. Sein Reichtum nahm zu. Niemand war in der Stadt so reich wie er. Der Etsu der Stadt starb. Es war kein Thronfolger da. Die Leute sagten: "Wir wollen Mama zum Etsu machen." So ward Mama König.

Der Vater Mamas hörte, daß Mama in der großen Stadt König geworden war. Der Vater sagte: "Ich möchte Mama wiedersehen. Mama hat mich im Zorn verlassen. Wie kann ich Mama bewegen, wieder zu mir zu kommen?" Der Vater Mamas rief Lugoi (das ist der kleine weiße Rinderkranich Senegalensis, der immer mit dem Vieh zusammen ist) und sagte: "Fliege in die Stadt, in der mein



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Sohn Mama König ist. Sage ihm, daß ich gestorben sei." Der Vogel Lugoi sagte: "Ich will es tun!" Der Vogel Lugoi flog zehn Tagelang. Am zehnten Tage kam er in die Stadt Mamas. Als es Freitag war, setzte er sich auf einen Baum, der im Gehöft des Königs stand. Der Baum hatte drei Zweige. Unter diesem Baume pflegte Etsu Mama auszuruhen. Der Lugoi saß auf dem Baume. Etsu Mama lag unter dem Baume. Der Vogel Lugoi sang: "Mama, Mama! Dein Vater ist gestorben!" Mama sagte zu dem Lugoi: "Dann geh hin und begrabe meinen Vater!" Der Lugoi flog zurück und sagte zu Mamas Vater: "Dein Sohn Mama sagte zu mir: ,Dann begrabe meinen Vater!"

Der Vater Mamas sagte: "Wie kann ich Mama bewegen, wieder zu mir zu kommen?" Der Vater Mamas rief Lugoi und sagte: "Fliege nochmals in die Stadt, in der mein Sohn König ist. Sage ihm, daß seine Mutter gestorben ist!" Der Vogel Lugoi flog in Mamas Stadt. Am Freitag setzte er sich unter den Baum, unter dem Mama lag. Der Vogel sang: "Mama, Mama! Deine Mutter ist gestorben!" Mama sagte zu dem Lugoi: "Dann geh hin und begrabe meine Mutter!" Der Lugoi flog zurück und sagte zu Mamas Vater: "Dein Sohn Mama sagte zu mir: ,Dann begrabe meine Mutter!"

Der Vater Mamas sagte: "Wie kann ich Mama bewegen, wieder zu mir zu kommen?" Der Vater Mamas rief Lugoi und sagte; "Fliege nochmals in die Stadt, in der mein Sohn Mama König ist. Sage ihm, daß seine Nagi gestorben ist!" Der Vogel Lugoi flog in Mamas Stadt. Am Freitag setzte er sich auf den Baum, unter dem Mama lag. Der Vogel Lugoi sang: "Mama, Mama! Deine Nagi ist gestorben! Mama fragte: "Wer ist gestorben?" Lugoi sagte: "Deine Nagi ist gestorben!"

Mama stand auf! Mama sagte: "Warte! Ich will mich zurecht machen. Ich will hinkommen. Ich will meine zweite Mutter begraben." Mama sagte zu seinen Leuten: "Sattelt die Pferde! Bringt 200 Sack Reis (Tschinkaffa); bringt 200 Sack Guineakorn (Eji); bringt Pfeffer (Jakka) und Salz (Esran) und Sumbala (Mandingowort; Nupe =Kula). Packt das auf! Ich will das mitnehmen." Mama stieg zu Pferd. Er ritt zu der Stadt, in der sein Vater, seine Mutter und seine Nagi wohnten. Als er vor den Toren der Stadt angekommen war, hielt er an und sagte zu seinen Leuten: "Wenn Speisen von meinem Vater oder meiner Mutter kommen, so weist sie zurück! Sagt, daß ich diese Speisen nicht wolle!"

Etsu Mama ritt mit allen seinen Leuten in die Stadt hinein. Er stieg am Hause der Nagi ab. Er trat in das Haus der Nagi. Die Nagi



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kam ihm entgegen. Mama sagte: "Ich denke, du bist gestorben?" Die Nagi sagte: "Nein, ich lebe noch. Aber dein Vater und deine Mutter weinten darüber, daß du im Zorn mit ihnen uns verlassen hast. Sie wollten dich gern sehen. Deshalb sandte dein Vater diese Nachricht an dich." Etsu Mama ließ alle mitgebrachten Lasten vor das Haus der Nagi bringen. Er schenkte alles der Nagi. Dann ritt er zurück zu seiner Stadt.

Eltern sollten sich ihrer Kinder annehmen, wenn sie in Not sind!


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