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VOLKSERZÄHLUNGEN UND VOLKSDICHTUNGEN


AUS DEM ZENTRAL-SUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 2 KARTENBEILAGEN

34. Der entlaufene Junge

Ein Mann heiratete eine Frau. Die Frau ward schwanger. Die rau gebar ein Kind. Das Kind war ein Junge. Der Bursche



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wuchs heran. Eines Tages kamen Kameraden zu dem Burschen und sagten: "Wir wollen gehen und heute nachmittag fischen. (Fischer =Ega, Plur. Egaschi.) Kommst du mit?" Der Bursche ging zu seinem Vater und sagte: "Meine Kameraden gehen heute nachmittag fischen. Darf ich mit ihnen gehen?" Der Vater sagte: "Nein, laß das sein." Der Bursche ging zu seiner Mutter und sagte: "Meine Kameraden gehen heute nachmittag fischen. Darf ich mit ihnen gehen?" Die Mutter sagte: "Nein, laß das sein!"

Der Bursche ging zum Hause seiner Mutter. Sie war nicht darin. Er nahm eine Kalebasse heraus und lief mit ihr fort. Er lief seinen Kameraden nach. Er kam an das Flußufer. Er schöpfte mit der Kalebasse seichtes Nebenwasser weg. Die Kalebasse zerbrach. Der kleine Bursche weinte. Eine Frau ging vorüber. Die Frau fragte ihn: "Warum weinst du?" Der kleine Bursche weinte. Er sagte: "Mein Vater erlaubte mir nicht, fischen zu gehen. Meine Mutter erlaubte mir nicht, fischen zu gehen. Ich ging in das Haus meiner Mutter. Sie war nicht darin. Ich nahm die Kalebasse und lief hierher. Nun ist die Kalebasse zerbrochen." Der kleine Bursche stand auf. Die Frau fragte ihn: "Wo gehst du hin?" Der kleine Bursche sagte: "Ich will auf den Benumarkt (das ist ein fast sagenhafter, berühmter großer Markt in der Nähe von Kutigi) gehen!" Der kleine Bursche ging.

Der kleine Bursche ging. Am Wege sah er fünf Finger. An den fünf Fingern war kein Mensch. Die fünf Finger gruben in der Erde. Die fünf Finger sagten: "Wir wollen dich schlagen." Der kleine Bursche sagte: "Schlagt mich nicht!" Die fünf Finger fragten: "Wo willst du hin?" Der kleine Bursche sagte: "Ich will zum Benumarkt." Die fünf Finger antworteten: "Der Benumarkt liegt vor dir."

Der kleine Junge ging weiter. Am Wege sah er einen menschlichen Kopf. An dem Kopf war kein Mensch. Der Kopf sagte: "Ich will dich schlagen!" Der kleine Bursche sagte: "Schlage mich nicht!" Der Kopf fragte: "Wo willst du hin?" Der kleine Bursche antwortete: "Ich will zum Benumarkt!" Der Kopf sagte: "Der Benumarkt liegt vor dir."

Der kleine Junge ging weiter. Am Wege sah er einen Fuß. An dem Fuß war kein Mensch. Der Fuß sagte: "Ich will dich schlagen!" Der kleine Bursche sagte: "Schlage mich nicht." Der Fuß fragte: "Wo willst du hin?" Der kleine Junge sagte: "Ich will zum Benumarkt." Der Fuß sagte: "Der Benumarkt liegt vor dir!"



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Der kleine Junge ging weiter. Am Wege sah er einen menschlichen Leib. An dem Leib waren keine Glieder. Der Rumpf sagte: "Ich will dich schlagen." Der kleine Bursche sagte: "Schlage mich nicht!" Der Rumpf fragte: "Wo willst du hin?" Der kleine Junge sagte: "Ich will zum Benumarkt." Der Rumpf sagte: "Der Benumarkt liegt vor dir."

Der kleine Junge ging weiter. Er kam an einen Platz, da liefen viele Menschen und saßen viele Menschen umher, Die Menschen sagten: "Wir wollen dich schlagen." Der kleine Junge sagte: "Schlagt mich nicht!" Die Menschen fragten: "Wo willst du hin?" Der kleine Bursche sagte: "Ich will zum Benumarkt." Die Menschen sagten: "Das ist hier der Benumarkt!" Der kleine Junge fragte: "Wo ist das Haus des Königs von Benu?" Die Menschen sagten: "Dort ist das Haus des Königs des Benumarktes."

Der kleine Junge kam in die Katamba eines großen Gehöftes. Viele Menschen saßen in der Katamba. Die Menschen sagten: "Wir wollen dich schlagen." Der kleine Junge sagte: "Schlagt mich nicht!" Die Leute sagten: "Wo willst du hin?" Der kleine Bursche sagte: "Ich möchte zum König des Benumarktes." Die Leute sagten: "Geh dort hinein. Da drin ist der König des Benumarktes."

Der kleine Junge kam in das Frauenhaus. Viele Frauen gingen da umher. Die Frauen sagten: "Wir wollen dich schlagen." Der kleine Junge sagte: "Schlagt mich nicht!" Die Frauen fragten: "Zu wem willst du denn?" Der kleine Junge sagte: "Zum König!"

Es war da ein Mann im Hause unter den Frauen. Der Mann sagte: "Der König bin ich, was willst du von mir?"

Der kleine Junge sagte zum König: "Mein Vater erlaubte mir nicht, fischen zu gehen. Meine Mutter erlaubte mir nicht, fischen zu gehen. Ich ging in das Haus meiner Mutter. Sie war nicht darin. Ich nahm die Kalebasse und lief zum Flusse. Ich schöpfte das Wasser an den Seitenlachen aus. Dabei zerbrach die Kalebasse. Ich fürchtete mich vor meiner Mutter. Ich lief fort. Ich kam auf den Weg zum Benumarkt. Fünf Finger wollten mich schlagen. Ich fürchtete mich nicht. Ein Kopf wollte mich schlagen. Ich fürchtete mich nicht. Ein Rumpf wollte mich schlagen. Ich fürchtete mich nicht. Ein Fuß wollte mich schlagen. Ich fürchtete mich nicht. Viele Menschen wollten mich schlagen. Ich fürchtete mich nicht. Ich kam zu dir hierher. Ich fürchte mich nicht."

Der König sagte zu dem kleinen Jungen: "Ich will dir 200 Sack Guineakorn schenken." Der kleine Junge sagte: "Ich danke dir! Ich



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kann das Korn nicht gebrauchen." Der König sagte: "Ich will dir 100 Körbe Reis schenken." Der kleine Junge sagte: "Ich danke dir! Ich kann den Reis nicht gebrauchen." Der König sagte: "Ich will dir 200 Bogen und viele Pfeile geben." Der kleine Junge sagte: "Ich danke dir! Ich kann die Bogen und Pfeile nicht gebrauchen." Der König sagte: "Ich will dir 200 Kleider und 200 Turbane geben." Der kleine Junge sagte: "Ich danke dir! Ich kann die Kleider und Turbane nicht gebrauchen."

Der König fragte: "Was wünschst du denn?" Der kleine Junge sagte: "Gib mir eine Frau!" Der König sagte: "Ich will dir 200 alte Frauen geben." Der kleine Junge sagte: "Ich danke dir! Ich kann die 200 alten Frauen nicht gebrauchen. Gib mir ein junges Mädchen zur Frau!" Der König sagte: "Du sollst es haben!" Der König gab ihm ein junges Mädchen! Der kleine Junge nahm das junge Mädchen und nahm es mit sich fort.

Der kleine Junge beschlief das Mädchen. Das Mädchen ward schwanger. Die junge Frau kam in die Wehen. Die junge Frau gebar sogleich drei Kinder. Alle drei Kinder waren Knaben. Die drei Knaben wuchsen heran. Es wurden drei große Burschen. Der Vater fragte sie: "Welche Arbeit wollt ihr verrichten?" Die drei Burschen sagten: "Kaufe uns Pferde! Wir wollen in den Krieg ziehen!" Der Vater kaufte ihnen drei Pferde.

Der Vater bestieg einmal sein Pferd. Seine drei Burschen bestiegen ihre Pferde. Er ritt mit seinen drei Söhnen zum Königshaus. Er blieb einige Zeit dort. Dann ritt er zurück. Seine Söhne waren noch beim König. Der Vater setzte sich vor die Katamba seines Gehöftes. Er sah die Straße nach dem Königshaus herab. Auf der Straße stand ein großer, starker Baum. Nach einiger Zeit kamen auch die drei Söhne vom Königshause her auf den Baum zugeritten. Der erste Sohn gab seinem Pferd die Sporen und sprang über den großen Baum hinweg. Der zweite Sohn nahm seinen Speer; er warf ihn auf den Baum. Der Speer zerspaltete den Baum in zwei Teile. Der Sohn sprang mit dem Pferde mitten hindurch. Der dritte Sohn faßte den Speer fest. Dann gab er dem Pferd die Sporen und sprengte auf den Baum zu. Er hob mit dem Speer den ganzen Baum mit allen Wurzeln aus dem Boden und trug ihn wie eine Fahne auf der Spitze des Speeres auf seines Vaters Gehöft zu.

Es ist schlecht, wenn die Kinder die Eltern mehr fürchten als die Welt. Die Eltern sollen die Kinder nicht aufhalten, wenn sie etwas unternehmen wollen. Sonst verliert man sie leicht für immer!


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