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VOLKSERZÄHLUNGEN UND VOLKSDICHTUNGEN


AUS DEM ZENTRAL-SUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 2 KARTENBEILAGEN

24. Das wählerische Mädchen und die Verwandelten

Ein Mann und eine Frau heirateten. Sie hatten ein Kind, das war ein Mädchen. Als es herangewachsen war, begehrte ein Mann es zur Frau. Das Mädchen wies ihn zurück. Andere Männer der Stadt bewarben sich um sie. Sie wies alle Männer zurück. Jeden, den ihr der Vater zum Manne vorschlug, mißachtete sie. Sie sagte: "Ich suche meinen Mann selbst aus." Der Vater sagte: "Du wirst sehen, wie das gehen wird."

Eines Tages verwandelte sich Gulu (der Geier; Haussa =Angulu) in einen Mann. Die Ewoako (Riesenschlange; Haussa =Missa) verwandelte sich in einen Mann. Die Bedjegi (eine Schlange mit kurzem Schwanz; Haussa matjiji) verwandelte sich in einen Mann. Ganna (der Termitenbau; Haussa Gara) verwandelte sich in einen Mann. Damma (eine Blätterpflanze, die es angeblich im Haussalande nicht gibt) verwandelte sich in einen Mann. Loko (ein Baum, den Engländer und Haussa Roko nennen) verwandelte sich in einen Mann. Dua (der Regenbogen; Haussa =Gadji-mari) verwandelte sich in einen Mann. Eines Sonntags gingen diese sieben Männer zum Markte. Das Mädchen machte Sonntags Kudo (d. i Sorghumbrei; Haussa=Ruansaki) und verkaufte ihn Sonntags auf dem Markt. Gulu machte sich sein Haar sehr schön und besuchte mit den anderen (verwandelten) Männern den Markt. Das Mädchen sah Gulu. Als das Mädchen nach Hause gegangen war, ging sie zu ihrem Vater und sagte: "Heute habe ich einen Mann auf dem Markte gesehen; der gefällt mir; den will ich zum Manne haben. Gib mir Gulu zum Manne. Gib mir alles, was mir nötig ist (der Erzähler erklärt, das sei die Ausstattung an Körben, Schüsseln, Kalebassen, Kleidern usw.) und laß mich mit Gulu gehen." Der Vater sagte: "Ich will es tun; du wirst nachher sehen." Er gab ihr alles (die Ausstattung) und sagte: "Da hast du alles! Geh nun mit Gulu hinaus!"

Das Mädchen ging hinaus. Ihre kleine Schwester begleitete sie. Der Vater und die Familie begleiteten das Mädchen und seine kleine Schwester zu Gulu mit den anderen Männern und dann diese noch bis vor das Tor der Stadt. Dann kehrten sie um. Das Mädchen mit



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seiner kleinen Schwester und Gulu mit den anderen (verwandelten) Männern gingen dann weiter.

Nach einiger Zeit langten sie an Bedjegir Haus an. Bedjegi sang: "Wenn du mich siehst, glaubst du, ich sei ein Mann! Ich bin aber eine Schlange."Dannverwandelte sich Bedjegi und kroch als Schlange in den Busch. Guli sagte zu dem Mädchen: "Es ist besser, wenn du heimgehst, denn alle werden verwandelt werden!" Das Mädchen sagte: "Nein, ich will dich zum Manne haben; ich bleibe bei dir." Sie gingen weiter.

Nach einiger Zeit langten sie an Rokos Haus an. Roko sang: "Wenn du mich siehst, glaubst du, ich sei ein Mann! Ich bin aber ein Baun- " Dann verwandelte sich Roko und stand nun als Baum im Busch. Gulu sagte zu dem Mädchen: "Es ist besser, wenn du heimgehst; denn alle werden verwandelt werden." Das Mädchen sagte: "Nein, ich will dich zum Manne haben; ich bleibe bei dir." Sie gingen weiter.

Nach einiger Zeit langten sie an Dammas Haus an. Das stand an einem Wasser. Damma sang: "Wenn du mich siehst, glaubst du, ich sei ein Mann! Ich bin aber eine Blätterpflanze." Dann verwandelte sich Damma und stand als Blätterpflanze neben dem Wasser. Gulu sagte zu dem Mädchen: "Es ist besser, wenn du heimgehst; denn alle werden verwandelt werden." Das Mädchen sagte: "Nein, ich will dich zum Manne haben; ich bleibe bei dir." Sie gingen weiter.

Nach einiger Zeit langten sie an Duas Haus an. Dua sang: "Wenn du mich siehst, glaubst du, ich sei ein Mann! Ich bin aber der Regenbogen." Dann verwandelte sich Dua und stand nun als Regenbogen am Himmel. Gulu sagte zu dem Mädchen: "Es ist besser, wenn du heimgehst; denn alle werden verwandelt werden." Das Mädchen sagte: "Nein, ich will dich zum Manne haben; ich bleibe bei dir." Sie gingen weiter.

Nach einiger Zeit langten sie an Gannas Haus an. Ganna sang: "Wenn du mich siehst, glaubst du, ich sei ein Mann! Ich bin aber ein Termitenhaufen." Dann verwandelte sich Ganna und stand nun als Termitenhaufen in der Steppe. Gulu sagte zu dem Mädchen: "Es ist besser, wenn du heimgehst; denn auch die letzten werden verwandelt werden." Das Mädchen sagte: "Nein, ich will dich zum Manne haben; ich bleibe bei dir!" Sie gingen weiter.

Nach einiger Zeit langten sie an Ewoakas Hause an. Ewoaka sang: "Wenn du mich siehst, glaubst du, ich sei ein Mann! Ich bin



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aber die Riesenschlange." Dann verwandelte sich Ewoaka und schlang sich um einen Baum. Gulu sagte zu dem Mädchen: "Es ist besser, wenn du heimgehst; denn auch ich werde mich verwandeln." Da begann das kleine Schwesterchen des Mädchens zu weinen und zu schreien. Das Mädchen aber sagte: "Du mußt nicht schreien. Es ist gleich, was Gulu wird; ich muß bei ihm bleiben." Sie gingen weiter.

Nach einiger Zeit langten sie an Gulus Haus an. Gulu sang: "Wenn du mich siehst, glaubst du, ich sei ein Mann! Ich bin aber ein Gulu. Hier bin ich zu Hause. Nun gehe wieder mit deiner kleinen Schwester zu deinem Vater zurück." Dann breitete Gulu seine Arme aus. Die Arme verwandelten sich in Flügel. Der ganze Gulu verwandelte sich und flog als Geier von dannen.

Das Mädchen stand mit seiner kleinen Schwester mitten im Busch. Sie wußte nicht, wo sie war. Sie kannte keinen Weg. Es war kein Weg da. Sie begann zu schreien. Sie lief mit ihrer kleinen Schwester umher. Sie fand keinen Weg. Sie blieb mit ihrer Schwester drei Jahre lang im Busch. Sie fanden eine Erdhöhle und krochen hinein. Drei Jahre lang lebten die Mädchen in der Erdhöhle.

Nach drei Jahren kam einmal eine Frau in den Busch, um daselbst Feuerholz zu sammeln. Die Frau hörte eine Stimme, die sang: "Mein Mann verwandelte sich in einen Vogel; nun habe ich ihn nicht wiedergesehen. Ich verließ meinen Vater; nun habe ich ihn nicht wiedergesehen. Geh und sag' es meinem Vater!" Die Frau bekam einen Schrecken. Se lief heim. Sie lief zum Etsu (König) und sagte: "Im Busch sang eine Stimme aus einer Höhle: ,Mein Mann verwandelte sich in einen Vogel; nun habe ich ihn nicht wiedergesehen. Ich verließ meinen Vater; nun habe ich ihn nicht wiedergesehen. Geh und sage es meinem Vater!' Wie ich das hörte, bekam ich einen solchen Schrecken, daß ich fortlief." Als der Etsu das gehört hatte, rief er alle seine Leu..e zusammen und sagte: "Geht mit dieser Frau in den Busch und seht, was es gibt. Die Frau soll vor euch hergehen und Holz schlagen."

Die Frau ging mit den Männern in den Busch. Sie ging an die Stelle, wo sie neulich Holz gesammelt hatte. Die Männer blieben in einiger Entfernung zurück. Die Frau ging ein wenig weiter. Sie kam an die Erdhöhle. Aus der Erdhöhle kam ein Ruf: "Frau, hilf uns!" Darauf kamen die Leute aus der Ferne herangelaufen, hoben die beiden Mädchen aus der Erdhöhle und brachten sie heim in das Haus ihres Vaters.



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Seitdem soll jedes Mädchen den zum Manne nehmen, den der Vater ihm bestimmt. Die Mädchen sollen darin durchaus nicht ihren eigenen Willen haben.


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