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VOLKSERZÄHLUNGEN UND VOLKSDICHTUNGEN


AUS DEM ZENTRAL-SUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 2 KARTENBEILAGEN

19. Jäger, Krokodil, Zibetkatze (Dankbarkeit)

Ein Jäger ging in den Busch. Er traf eine Antilope. Er tötete die Antilope. Boaji (die Zibetkatze) kam vorbei. Boaji sagte: "Gib mir etwas von dem Fleisch ab. Ich hungere und bitte dich heute. Ein anderes Mal helfe ich dir dann." Der Jäger gab Boaji von dem Fleisch der Antilope. Boaji lief von dannen.

Am andern Tag kam der Jäger wieder in den Busch. Er kam dahin, wo der Busch ganz dicht war. Er traf mitten im trockenen Busch ein Krokodil (Kansa; Haussa =Kada; Joruba =Oni). Der Jäger sagte: "Wie kommst du denn mitten in den Busch? Ist dein Haus nicht im Wasser ?" Das Krokodil sagte: "Ich bin vorige Nacht auf die Jagd gegangen und habe mich sehr weit vom Fluß entfernt. Nun kann ich nicht mehr den Rückweg finden. Ich bitte dich, mir den Weg zum Niger (Edu; Haussa =Koarra; Joruba =Oja) zu zeigen. Ich will dir auch fünf Lasten Fisch schenken." Der Jäger sagte: "Das will ich gerne tun." Der Jäger band dem Krokodil einen Strick um den Fuß und führte es hinter sich zum Niger. Am Niger sagte das Krokodil: "Nun binde mich wieder los. Ich will in das Wasser gehen und dir die fünf Lasten Fisch herausholen." Der Jäger band das Krokodil los; das Krokodil ging in das Wasser. Der Jäger blieb auf dem hohen Ufer.

Das Krokodil holte aus dem Wasser einen großen schweren Fisch. Er brachte den Fisch aus dem Wasser und legte ihn vor dem Jäger auf dem hohen Ufer hin. Das Krokodil ging wieder in das Wasser. Es nahm eine Last Fische, legte sie auf das flache Ufer und kehrte in das Wasser zurück. Der Jäger stieg zum flachen Ufer herab, nahm die Last Fische und trug sie aufs hohe Ufer hinauf. Das



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Krokodil brachte eine andere Last Fische und legte sie an den Rand des Wassers. Dann kehrte es ins Wasser zurück. Der Jäger kam an den Rar.d des Wassers, nahm die Last Fische und kehrte auf das hohe Ufer zurück. Das Krokodil brachte eine Last Fische und legte sie in das seichte Wasser. Dann kehrte es ins Wasser zurück. Der Jäger kam herab, nahm die Fische aus dem seichten Wasser und trug sie auf das Ufer. Das Krokodil kam zurück und legte eine Last Fische an den Rand des tiefen Wassers. Der Jäger kam vom hohen Ufer herab, ging über das flache Ufer, ging durch das seichte Wasser bis an den Rand des tiefen Wassers. Am Rand des tiefen Wassers wollte er die fünfte Last Fische aufnehmen. Das Krokodil schnappte aus dem tiefen Wasser nach seinem Fuß, packte ihn und schleppte ihn fort.

Das Krokodil brachte den Jäger zu seinen Brüdern, auf die Sandbank. Das Krokodil rief alle seine Freunde zusammen und sagte: "Wir haben einen Jäger gefangen. Wir wollen den Jäger verspeisen. Kommt alle zusammen." Die Krokodile kamen von allen Seiten zusammen und legten sich um den Jäger. Der Jäger sagte: "Ist das recht? Ich habe erst das Krokodil aus dem Busch geholt, weil es seinen Weg nicht fand, und nun will es mich verzehren!" Die Krokodile sagten: "Wir wollen darüber vier andere Leute hören."

Auf dem Wasser kam eine Asubi (bunte, ovale Matte, wie sie hauptsächlich von den Benueleuten im Kutigigebiet, sonst angeblich von niemand im Niger-Benueeck hergestellt wird) angeschwommen. Die Asubi war alt und zerrissen. Die Menschen hatten sie fortgeworfen. Der Jäger rief: "Asubi hilf mir!" Die Asubi sagte: "Was gibt es?" Der Jäger sagte: "Ich habe Kansa, der sich im Busch verirrt hatte, zum Niger zurückgeführt, und nun will er mich aufessen! Ich gab ihm das Leben, nun will er mir das Leben nehmen. Ist das recht?" Die Asubi sagte: "Du bist ein Mensch!" (Sauanji, Plur. Sauantjiri; Haussa =Mutu, Plur. Su-Mutani; Joruba =Enja, Plur. Auw'enja). Ich kenne die Menschen. Wenn eine Matte jung ist und den Menschen nützt, so reinigen sie sie, treten nicht mit Füßen darauf, rollen sie nach dem Gebrauch auf und stellen sie sorgfältig beiseite. Wird die Matte alt, dann vergessen sie, was die Matte ihnen früher war. Dann werfen sie die Matte fort, in den Fluß. Sieh mich an! Kansa tut recht, wenn er jetzt mit dir macht, wie Menschen es mit der Matte machen." Die Asubi schwamm weiter. Kansa sagte: "Hast du gehört, was die Asubi sagte ?"



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Ein zerrissenes, altes Kleid kam auf dem Wasser angeschwomrnen. Das Kleid war alt und zerrissen. Die Menschen hatten es weggeworfen. Der Jäger rief: "Kleid! Hilf mir!" Das alte Kleid fragte: "Was gibt es?" Der Jäger sagte: "Ich habe Kansa, der sich im Busch verirrt hatte, zum Niger zurückgeführt und nun will Kansa mich aufessen. Ich gab ihm das Leben, nun will er mir das Leben nehmen. Ist das recht?" Das alte Kleid sagte: "Du bist ein Mensch. Ich kenne die Menschen. Wenn ein Kleid jung und schön ist, tragen sie es überall herum, stehlen ihm seine Schönheit und sagen: ,Sind wir nicht schön?' Es ist aber das Kleid, das schön ist. Die Menschen wissen auch, daß sie lügen, denn sie legen das Kleid zusammen, streichen seine Falten und wickeln es in Papier ein. Wird das Kleid dann alt, so vergessen sie, was das Kleid ihnen früher war. Dann werfen sie das Kleid fort in den Fluß. Sieh mich an! Kansa hat recht, wenn er jetzt mit dir macht, wie die Menschen es mit dem Kleide machen!" Das alte Kleid schwamm weiter. Kansa sagte: "Hast du gehört, was das alte Kleid sagte?"

Eine alte Stute (Godia; Haussa =Godia; Joruba =Aboeschi; Hengst: Nupe Doko-Ba; Haussa =Namiji-Doki; Joruba =Akueschi) kam an das Flußufer gelaufen, um zu saufen. Die Stute war alt und abgemagert. Die Menschen hatten sie laufen lassen, weil sie zu nichts mehr zu gebrauchen war. Der Jäger rief: "Stute! Hilf mir!" Die alte Stute sagte: "Was gibt es?" Der Jäger sagte: "Ich habe Kansa, der sich im Busch verirrt hatte, zum Niger zurückgebracht, und nun will Kansa mich aufessen. Ich gab ihm das Leben, nun will er mir das Leben nehmen. Ist das recht?" Die alte Stute sagte: "Du bist ein Mensch. Ich kenne die Menschen. Wenn eine Stute jung ist, wird ihr ein Haus gebaut. Burschen werden ausgesandt, die das beste Gras schneiden müssen. Das beste Korn wird ausgesucht, und wenn die Stute trächtig ist, bekommt sie alles im Übermaß. Wenn die Stute aber alt ist und nicht mehr rossig wird, wenn sie krank und schwach wird, dann treibt der Mensch sie in den Busch und sagt: ,Sorge selbst für deine Nahrung!' Sieh mich an! Kansa hat recht, wenn er jetzt mit dir macht, wie die Menschen es mit einer alten Stute machen!" Die Stute lief weg. Kansa sagte zu dem Jäger: "Hast du gehört, was die alte Stute sagte?"

Boaji kam an das Ufer des Niger, um Wasser zu trinken. Es war Boaji, dem der Jäger am andern Tage von dem Fleisch abgegeben hatte. Der Jäger rief: "Boaji! Hilf mir!"Boaji sagte: "Was gibt es?" Der Jäger sagte: "Ich habe Kansa, der sich im Busch verirrt



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hatte, zum Niger zurückgeführt, und nun will er mich aufessen. Ich habe ihm das Leben gegeben, nun will er mir das Leben nehmen. Ist das recht ?"Boaji sagte: "Die Sache ist schwierig zu entscheiden. Ich muß alles genau wissen. Ich will diese Sache nicht nur von dem Jäger hören, sondern auch von Kansa, wenn Kansa mit meinem Urteil einverstanden sein will." Kansa sagte: "Ich will sagen!" Boaji sagte: "Wie hat der Jäger dich hierher gebracht?" Kansa sagte: "Er hat mir einen Strick um den Fuß gebunden und mich hinter sich hergezogen."Boaji fragte: "Hat es weh getan?" Kansa sagte: "Ja, es hat weh getan!" Der Jäger sagte: "Das ist nicht möglich!" Boaji sagte: "Das kann ich schon nicht beurteilen, ehe ihr es mir vorgemacht habt. Kommt ans Ufer und macht es mir vor!" Kansa und der Jäger kamen ans Ufer. Boaji sagte zum Jäger: "Nun binde die Schnur wieder um seinen Fuß, wie du es vorher gemacht hast, damit ich beurteilen kann, ob es ihm weh getan haben kann." Der Jäger band die Schnur um Kansas Fuß. Boaji fragte: "War es so?" Kansa sagte: "Es war so. Es tut sehr weh, wenn man das eine Zeitlang umgebunden hat."Boaji sagte: "Das kann ich so nicht beurteilen. Der Jäger muß also Kansa den ganzen Weg wieder zurückführen. Ich werde mitkommen." Der Jäger nahm den Strick und führte Kansa an den Ort im Busch zurück. Der Jäger sagte: "Hier war es!"Boaji sagte: "Kansa, war es hier?" Kansa sagte: "Ja, es war hier. Von hier an hat der Jäger mich bis an den Niger am Fuß gebunden hinter sich hergeführt."Boaji sagte: "Du warst also nicht damit zufrieden?" Kansa sagte: "Nein, ich war nicht damit zufrieden."Boaji sagte: "Es ist gut! Du hast für die schlechte Behandlung den Jäger dadurch gestraft, daß du ihn am Bein packtest und zur Sandbank schlepptest. Diese Sache ist geschlichtet. Damit nun nicht wieder ein solcher Streit entsteht, soll der Jäger dich hier im Busch allein lassen und seinen Weg gehen, ohne sich um dich zu kümmern. Das ist meine Entscheidung."

Boaji und der Jäger gingen von dannen. Kansa blieb im Busch. Kansa fand den Weg nicht zum Flusse. Kansa verhungerte und verdurstete. Der Jäger dankte Boaji.

Es kommt für jeden Menschen eine Zeit, wo er das wieder erlebt, was er anderen getan hat.


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