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VOLKSERZÄHLUNGEN UND VOLKSDICHTUNGEN


AUS DEM ZENTRAL-SUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 2 KARTENBEILAGEN

6. Die jungen Mädchen Soro und Nako

Es liegt eine bestimmte Analogie in dem Lebensgange der Knaben und der Mädchen. Sie beruht in der gruppenweisen Erziehung durch Burschen und Männer hier, in entsprechender Leitung durch ältere Mädchen und Frauen dort, ohne daß dabei die Geschlechter allzu streng voneinander geschieden werden. Und gleichzeitig werden Knaben und Mädchen von jung an dem Ernste des Lebens nahegebracht.

Schon mit dem fünften Jahre muß das Töchterchen der Mutter die ersten Hilfsreichungen bieten. Sie muß mit kleinen Töpfen Wasser tragen. Es gehen nicht viel mehr als zwei oder drei Liter in den Topf, aber das Kind wie die Mutter nehmen das als eine ernste Sache, und zumal das Mädchen trägt seine kleine Last mit einer Wichtigkeit und einem Ernst, als hänge von der Richtigkeit seiner Leistung das Glück der Familie ab. Weiterhin gilt es, das Guineakorn zu reiben, was aber nicht anders möglich ist, als indem ein Mörser als Unterlage für die Füßchen hingeschoben wird, denn die Reibsteine der Nupe stehen auf hohen Stützen (also wie z. B. bei den Mossi, Skola usw.), so daß die erwachsene Frau nicht bei der Arbeit zu knien braucht. Endlich aber beginnt in dem Alter von 6 Jahren auch die gewichtigste Arbeit, die liebste Arbeit der nupeschen Frauenwelt, der Handel. Erst mag das Geschöpfchen einmal sich im Einkauf von Kleinigkeiten, von Gewürzen und Kräutern üben, deren Preise und Wertschätzung sie noch sehr wohl seit der Zeit kennt, da sie als Junggeborenes über dem mütterlichen Stand hockte oder auf dem mütterlichen Schoße ruhte. Und mit 7 Jahren soll das Kind dann auch schon verkaufen können.

Eine ältere Nupefrau in Mokwa plauderte einmal mit uns. Ich fragte sie danach, was wohl in ihrem Leben das Schönste gewesen sei. Nachdem wir uns mühsam über den Begriff, daß einmal im Leben etwas viel schöner sein könne, als alles andere, geeinigt hatten, sagte sie ganz prompt und klar: "Als meine Mutter mir das



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erstemal erlaubte, mein eigenes Issa zu kochen und selbst auf dem Markte zu verkaufen." Drollige Menschen in unserem Sinne! Von den meisten europäischen Frauen hätte man aber als Antwort auf die Frage gehört von erster Liebe, dem ersten Kinde, bei einigen vom ersten Ball, bei anderen vom Tanz mit einem verehrten Künstler, bei Schwärmerinnen von Musik und Lyrik - aber bei keiner vom ersten selbstgekochten und selbstverkauften Mehlbrei. Die Unterschiede der Kulturen sind zu groß!

Das siebenjährige kleine Nupemädchen hat seine angenehmen und seine weniger geschätzten Aufgaben. Sie muß die Mutter mit in den Busch begleiten und Holz sammeln und heimbringen. Das schätzt sie nicht. Lieber geht sie schon mit ins Farmland, wenn ein Geld Benötigender aus dem Speicher sein Dauwa (Guineakorn) verkauft. Die eine Hälfte der Ernte pflegt der Nupebauer zu verspeichern, die andere verkauft er, wenn er sonst Geld braucht. Da geht dann das Mädchen mit seiner Mutter hin, und jede trägt nach der Kraft Last oder Päckchen heim. Das Mädchen kann etwa für 400 Kauri Korn tragen. Das trägt sie. Das stampft sie im Mörser. Es ist ihr anvertrautes Gut. Sie kocht das Mehl in Wasser, gießt dieses ab und zieht mit dem gekochten Mehlsatz und einem Korbteller auf den Markt. Da setzt sie sich auf oder neben Mutters Platz, greift mit den Fingerchen in das Mehl und türmt es in Häufchen von Form und Größe größerer Riechkerzen auf der Korbschale auf. Diese Issa genannten Häufchen erwerben durstige Wanderer und lösen sie in einer Schale mit Wasser auf.

Mit etwa 10 Jahren pflegt das Mädchen schon so selbständig zu sein, daß das Kind zur Mutter kommt und sagt: "Leih mir etwas Koni!" oder "Leih mir eine Schüssel Bohnen!" oder ähnliches. Das Mädchen will nun auch anderes Essen selbst kochen und selbst verkaufen. Die Mutter wird unbedingt darauf eingehen, und das Mädchen wird einen ganz besonderen Fleiß bei Anfertigung dieser Speisen anwenden. Stolz zieht sie mit den fertigen Produkten ab, stolz kommt sie mit dem Erlös heim. Ich sah ein kleines Mädchen so mit den ersten Ergebnissen selbständiger Kochkunst fortgehen. Zwei Tage vorher hatte sie noch kindlich plaudernd auf meinem Schoß gesessen und mit meiner Uhr gespielt. An jenem Morgen würdigte sie mich gar keines Blickes. Ich sah sie auch, wie sie abends heimkam. Sie kam ernst auf die Mutter zu, die ihr Jüngstes just gewaschen hatte und mit dem Kleinen auf dem Hofe hockte. Das Mädchen setzte den Korb nieder, nahm den Deckel ab und schüttete einen hübschen Haufen Kauri in den Schoß der Mutter. Das Mädchen war ganz ernst. Nur ein leichtes Aufblitzen in den Augen und ein tiefer Seufzer verriet den tiefen, freudigen Stolz, der das kleine Herz klopfen ließ.



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Die kleinen Mädchen sind in diesem Alter schon von einer Selbstständigkeit, die alltäglich verblüffen muß. Vom frühen Morgen an helfen sie der Mutter. Sie schleppen die kleinen Geschwister, als ob sie die Lebensverpflichtung für sie hätten. Am Morgen stehen sie im Morgengrauen am Marktplatz und verkaufen den Karawanen heißen Mehlaufguß. Sie schleppen morgens und abends Wasser herbei, ziehen zu mehreren in den Busch, bringen Feuerholz. Sie kochen und waschen; sie kaufen und verkaufen, sie verdienen sich und ihren Angehörigen den Lebensunterhalt, als gehöre das zur Selbstverständlichkeit, und obendrein finden sie noch überreich Zeit und Kraft, ihrer Jugendlust im Spiel zu genügen, ohne je über Überbürdung von Arbeit und über allzugroße Einschränkung der Kindervergnüglichkeit zu klagen, — ohne je überhaupt an Klagen zu denken, wenn sie auch sicher keine sehr feinen Hände, dagegen schwielige Fäuste und starke Arme vor der Zeit gewinnen.

Das erste Kleid der Kinder ist Doro, die Perlenlendenschnur. Wir werden nachher sehen, welche Rolle im Leben der Frauen von Nupe das Perlenhaisband spielt. Die Lendenschnur ist zuerst aus Due (Fischsteinperlen) und Fuea aus Steinperlen zusammengesetzt. Mit 7 Jahren kommt darüber Tobi, das ist ein Stoffkleid, ein Schurz viereckigen Schnittes, die dem B ante der Knaben entspricht. Meist hängen diese Schurzlappen vorn lang herunter; die Burschen ziehen ihren Bante im Ringspiel nach hinten zwischen den Beinen durch; die Mädchen sollen den Tobi bei den Ackerarbeiten ebenso behandeln, gesehen habe ich es nicht. Mit 8 Jahren trägt das Mädchen im Dorfe und in der Stadt schon das große Gewand Bassa, ein Kleid, das mit Fransen versehen und um die Lenden verknotet ist. Erst wenn ein Mädchen heiratet, erhält es das Bunukleid, das über der Brust unter dem linken Arm verschnürt ist, dann auch Lufuta, das Kopftuch. Die jungen Männer tragen analog das Sakadji, eine Art Badehose, später erst die Tsakoko und die große Hose aus vielem Stoff mit vielen Stickereien, die Darbaki oder die schmucklose Tsokabu dazu als Obergewand Uoparagi, Togo, Gudungaba, Gariusw. Aber zwischen Männer- und Burschen resp. Mädchen- und Frauengewand ist ein gewaltiger Unterschied der Sitte und Tragweise. Für den Mann schickt es sich auch heute noch nicht, sein Kleid zu waschen oder, wenn es zerrissen ist, ausbessern zulassen. Man sagt, ein Mann, der sein Kleid waschen oder ausbessern lasse, sei zu faul, sich ein neues zu verdienen. Das ist eine Schande. Das Kleid kann in Fetzen von ihm herabsinken; an Festtagen wird er ein neues Gewand tragen, aber kein geflicktes. Denn das würde ihn schänden. Keine Schwester wird dem Bruder, kein Weib dem Gatten ein Kleid waschen. Das wäre wie eine Schmach. Dagegen waschen Mädchen und Frauen emsig ihre Kleider, zumal nach der monatlichen Reinigung. Nach der Wäsche



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färben sie die Stoffe mit Esa, der Kamwood-Rotholzfarbe. Die Farbe hält nicht lange. Anfangs haben die gefärbten Stoffe ein sehr schönes leuchtendes Rot. Aber bald sinkt der Holzstoff nach dem Klopfen heraus. Immerhin charakterisiert doch die rote Farbe das Nupeweib, sowie die blaue Kleiderfarbe in den Marktbildern der Joruba durchaus maßgebend hervortritt. Wenn so einige Hundert hochgewachsene stämmige Nupefrauen in roter Körperbemalung, in rote Gewänder gehüllt, mit lang herabfallendem Lufuta, vereinigt sind, so gewinnt man einen Eindruck, der an Farbwert dem Wesen der Jorubamärkte entgegengesetzt ist; wie ja auch der Kleiderreichtum, die Fülle der Stoffarten, die Stoffdrapierung und der Schick im Tragen das Nupeweib und seine Körperkultur dem Jorubaweibe weit überlegen erscheinen läßt.

Wir sind bei der Behandlung der Kleidung schon über das Alter hinausgekommen, in dem wir unser Nupemädchen vordem verlassen haben. In dem Alter der beginnenden ungewöhnlichen Selbständigkeit ist es noch nicht mit der Fülle nupescher Kleiderpracht geschmückt. Es ist ein kleines, halbnacktes Geschöpf mit Lendentuch, an Festtagen von oben bis unten rot angestrichen, und wie überall wechseln auch hier hochaufgewachsene schlanke und kurze gedrungene Typen mit einander ab, wenn die Kraft der weiblichen Körper auch hier in starken Formen früh Glieder und Rumpf ausbildet.

Wenn die kleinen Mädchen nun beginnen auf den Markt zu gehen, Issa zu kochen und auf den Markt zu tragen, wenn sie also etwa 10 Jahre alt sind, so treten sie in eine Art Klubwesen ein, ähnlich wie die Knaben; es beginnt für sie die Soroperiode. Eines Abends, nach der Heimkehr vom Markte, kommen die Gleichaltrigen zusammen. Sie wählen eine Soro, eine Anführerin, Lehrerin, eine ältere Freundin, die sie leite und auch schütze. Danach begeben sie sich alle gemeinsam zur Nako. Diese Anrufung der ersten ihres Geschlechts macht nicht wie bei den Knaben Kaurimuscheln und Bier nötig. Sie begrüßen die alte Nakofrau mit dem Anruf Arubo. Sie knien vor der Matrone nieder und eines der Mädchen trägt vor, daß der gemeinsame Wunsch wäre, gemeinsam zu spielen, eine Herrin zu haben, wie das immer im Nupelande gewesen, und daß ihre Wahl auf die und die Person gefallen sei. Das sprechende Mädchen sagt: "Wir wollen dich sehen. Wir wollen, daß du diese Soro erst ansiehst." Danach fragt die Alte die Mädchen dreimal: "Ihr wollt also diese hier als Soro haben?" Wenn die Mädchen das dreimal bejahen, gibt die Alte der neuen Soro ein Kopftuch. Nur dies eine Mädchen darf das Kopftuch, das sie symbolisch zur Frau erhebt, tragen, keines der andern. Dreimal fragt die Matrone die Soro, ob sie die Mädchen gut führen wolle. Dreimal wird die Alte mit Arubo angerufen.



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Dann sagt die Nako wieder: "Nun macht keinen Streit! Unterläßt alle Händel gegen die Soro. Ihr selbst habt die Soro gewollt. Ich warne euch, gegen sie etwas zu tun. Sonst werde ich euch schwer strafen. Wenn ihr aber gut seid und immer freundlich zur Soro und untereinander, dann werdet ihr gut heiraten und werdet später viele Stoffe und Perlen erhalten."

Fünf Tage nachher kommt dann alle Welt zusammen. Die Soromädchen sagen: "Heute wollen wir tanzen. Heute wollen wir tanzen!" Alle kommen und alle haben die schönsten Kleider angelegt. Es ist ein Fest für das ganze Viertel oder die ganze Stadt, und der Sokiara sorgt für entsprechende Beköstigung. Die großen Sokiara schleppen große Humpen heran; die Sokiara Ansuma begnügen sich mit kleineren Gefäßen, — also schafft jeder nach Alter, Einfluß und Vermögen Stoff, um den Ehrentag der kleinen Mädchen festlich begehen zu helfen. Es ist selbstverständlich, daß allerhand Trommeln geschlagen werden. Denn es ist ja ein großes Tanzfest, das am Morgen um 6 Uhr beginnt und nachts um 12 Uhr endet. Die Nupe haben überhaupt eine große Kunstfertigkeit entwickelt, ihre Feste in die Länge zu ziehen und auszukosten, ganz wie die Joruba. Bei diesen Festen sitzen anscheinend die Sokiaren zuschauend daneben, wohl etwas blasiert und kindlich gönnerhaft, denn sie stiften das Bier, und die kleinen Mädchen tanzen zu ihrer Trommelei. Um Mitternacht löst sich die Gesellschaft auf, und jedes Mädchen geht mit seiner Mutter heim.

Wenn eine Soro heiratet, wählen die ihr unterstellten Mädchen eine neue, die dann in gleicher Weise der Nako vorgestellt und von dieser auf ihre Verantwortung aufmerksam gemacht wird. Während also die Soro nur eine periodische Stellung im Leben einnimmt, ist die Nako stets auf Lebenszeit gewählt. Ihre Würde geht erst mit ihrem Tode auf eine andere Matrone über, die von den Frauen erwählt wird. Alle Mädchen haben einmal im Jahre eine umfangreiche gemeinsame Arbeit für die Nako zu verrichten. Sie gehen nämlich kurz vor Beginn des Winters in den Busch und sammeln Feuerholz für die Nako. Sie haben die Arbeit alle gemeinsam zu verrichten. Sie holen so viel Brennholz, daß die Nako ein Jahr lang genug davon hat. Es ist ein ungewöhnlich großes Haus von oben bis unten damit angefüllt. Andere Verpflichtungen haben die Soroverbände gegenüber der Nako nicht.

Die Sokiaraburschen pflegen untereinander Freundschaft zu schließen. Ähnlich die kleinen Mädchen. Der radikale Unterschied der sozialen Funktion von Mann und Weib kann kaum schöner hervortreten als in diesem Beispiel. Die Sokiarafreunde sind gleichaltrig. Ihr Bündnis reicht bis in das Greisenalter, und wenn ein alter Nupemann darüber klagt, daß er vereinsamt in der Welt stehe, pflegt er



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zu sagen: "Ich bin der letzte jener Sokiara. Alle meine Sokiaragenossen starben." —Die Mädchen schließen dagegen in der Weise Freundschaft, daß ein kleines sich einem älteren anschließt oder daß ein älteres ein jüngeres Mädchen zur Freundin erwählt, so daß diese Freundschaft immer aus einer Lenkenden und einer Dienenden besteht. Das kleine Mädchen trägt der Freundin die Körbe, sie verrichtet für die zwar nicht den Worten nach (wie bei uns) angebetete, aber doch hochverehrte ältere Freundin alle möglichen Dienste und Gänge. Es ist, als wären diese Frauen nicht imstande, gleichberechtigt nebeneinander herzugehen, als müßten sie immer eine Herrin und eine Dienerin sein, als äußere sich ihr Lustgefühl in der Freundschaft entweder darin, daß sie dienen, oder darin, daß sie befehlen, daß einige sehr leicht herrisch, daß andere ebenso häufig sklavisch sind und geehrt durch die Tatsache, der Verehrten dienen zu dürfen. Die wertvollsten Dienste erweist die kleine dienende Freundin der sog. Nusa, der älteren Verehrten, wenn diese einen Geliebten hat. Dann eilt sie hin und her als Liebesbotin und vermittelt alle Zusammenkünfte, Übermittlungen von Aufmerksamkeiten und Geschenken. Denn beim Weibe läuft das meiste auf die Liebe heraus, wie beim Manne immer der Drang der Vereinigung von Kräften zur produktiven Gesamtleistung vorherrscht. Bei den Mädchen hört die Freundschaft mit der Ehe auf. Bei den Männern dagegen beginnt mit der Freundschaft die Arbeit des Lebens, die schöpferische Kraft.


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