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VOLKSERZÄHLUNGEN UND VOLKSDICHTUNGEN


AUS DEM ZENTRAL-SUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 2 KARTENBEILAGEN

5. Der Sokiara. Knabenbund

Ich muß einiges nachholen, einen Bericht geben über die Institution der Jugendorganisation, die außerordentliche Ähnlichkeit, ja Übereinstimmung hat mit gleichen Einrichtungen der Joruba, hier aber vielleicht bis vor kurzem noch energischer durchgeführt wurde, als bei dem südlichen Nachbarvolke.

Wenn in einem Städtchen oder einem Stadtviertel eine gute Reihe gleichaltriger Knaben, normal zwischen 7 und 9 Jahren, sich angesammelt hat, die noch nicht in einem Jugendverbande ist, so wählen sie einen sog. Sokiara, der gemeiniglich ein Bursche von 10 bis 12 Jahren ist. Dieser Sokiara bleibt dann der Führer dieser Schar an die 10-20 Jahre, so lange, bis (wie der Volksmund sagt) der Bart anfängt zu kommen. Diese Bildung erfolgt etwa zur Periode der emsigsten Farmarbeit. Sie bleibt als jüngste Sokiara des Ortes oder Stadtteiles etwa 7 Jahre lang, nimmt während der ersten 3 bis 4 Jahre den heranreifenden Nachwuchs in sich auf, überläßt aber dann die Übernahme noch jüngerer Reiflinge der Bildung des nächsten Sokiara, der immer ca. 7 Jahre später als die vorhergehende ins Leben (wenigstens früher) zu treten vermochte. In älteren Zeiten unterschied man ca. 3-5 Schichten von Sokiaren, die noch lebendig zusammenwirkten, und die einen Lebensraum einer Gesellschaft von 6-40jährigem Alter in regelmäßigen Abständen umspannte.

Mir wurde die Zahl fünf als äußerste angegeben, ich konnte aber nur die Bezeichnung für drei Schichten, aber für die drei jüngsten gewinnen. Die jüngste ist immer die Sokiara anasuma, die der kleinen Jungen, die noch mit Erde und Steinchen spielen; die mittlere der Sokiara lungawa, d. h. die der Burschen, die das Spiel mit den Mädchen bevorzugen und mit ihnen harmlos herumtollen; die älteste der Sokiara ena-ko, der großen Burschen, von denen schon viele einen Bart haben, viele verheiratet sind, alle aber stets bereit zu launischen, etwas tollkühnen und gewagten Unternehmungen.

Wenn nun diese kleinen Jungen von 7-9 Jahren sich ihren Anführer gewählt haben, so gehen sie mit ihm zu einem bestimmten alten Manne, dessen Titel Dako Tsu ist. Dem muß von allen Sokiaramitgliedern ganz besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Der junge Sokiaraführer und alle Knaben fallen vor dem Dako Tsu nieder. Einer von ihnen hebt sich auf die Knie und sagt: "Wir Jungen haben uns zusammengetan und haben diesen Burschen hier zu



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unserem Sokiara erwählt." Der Dako Tsu sagt zu dein Burschen: "Komm her!" Der junge Sokiara tritt vor. Der Dako Tsu fragt ihn: "Wirst du alle diese Knaben gut leiten können ?" Der junge Sokiara antwortet: "Njikaka!" Im ganzen wird ihm diese Frage vom Alten dreimal vorgelegt, und er antwortet alle dreimal mit: "Njikaka!" darauf.

Nach Abgabe dieser feierlichen Erklärung wirft der Sokiara sich vor dem Dako Tsu nieder und bestreut seine Stirn mit Erde. Endlich ruft der Dako Tsu eine ihm in der Stille etwa parallel funktionierende, hoch angesehene Frau, die Nako. Sobald die Nako kommt, wird ihr ein Platz angewiesen, und der Dako Tsu sagt: "Diese Knaben sind zu mir gekommen, eine Sokiara zu bilden; sie wollen diesen Burschen dort zu ihrem. Häuptlinge haben." Die alte Nako fragt nun den Burschen: "Wirst du alle diese Buben gut führen können?" Der Bursche antwortet dann: "Arubo, Arubo, Arubo!" Die Nako wiederholt darauf ihre Frage noch zweimal, und der Bursche antwortet sein Arubo, Arubo, Arubo! auch noch zweimal.

Diese Bestätigung endet dann wieder mit Stirnerdgruß und Sandbestreuung. Der junge Jugendleiter ist damit eingesetzt. Der Dako Tsu beendet diese Investitur nun mit einer Ansprache. Er sagt zu den Knaben: "Ihr habt euch diesen Allijara für eure neue Sokiara selbst gewählt! Nun müßt ihr auch tun, was er will, wer ihm nicht folgt, muß eine Strafe von 400 Kauri zahlen! Folgt ihm!" Das junge Volk ist damit entlassen. Es wurde mir gesagt, daß diese Drohung nie ausgeführt zu werden brauche, da ihm alle unbedingten Gehorsam erweisen werden. Zuwiderhandlungen gegen dieses Subordinationsgesetz sind gewissermaßen unausdenkbar. Die Jungen wie die Alten begrüßen den jungen Jugendführer von nun an mit der Bezeichnung: "Allijera" oder Allijara", d. h. Häuptling der Kinder.

Nach seiner derart feierlichen Investitur läßt der neue Sokiaraführer viel Bier machen und lädt eines Abends alle seine Jungen zum Umtrunk ein. Das ist dann ein großes Fest, das weit in die Nacht hineingetragen wird und die Arbeit des nächsten Tages schwer genug erscheinen läßt.

Die Tätigkeit der jungen Leutchen findet zunächst und im allgemeinen ihren Ausfluß in der Organisation der Jugendspiele, die anfangs die Knaben unter sich und später gemeinsam mit den Mädchen ausführen. Der Sokiaraleiter ist noch jung genug, um an Torheiten, wie Kriegsspiele, Mäusefang und Baumklettern Gefallen zu finden. Und die bekannten Ringspiele, die in dieser Periode gelernt werden, erfreuen das Herz alter Leute nicht weniger als das der Jungen.

Dann folgt die Vorbereitung für die schönen Edso, die Feste, in denen der Mond doppelt strahlt, die Sterne doppelt lachen für die



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jubelnden Glücksnächte dieser Jugend, die wie alles Sprossende auf dieser Erde in unendlicher Wonne schwimmen kann und will, will, will! Und hier gibt es keine Schranke einer harten Sitte, diktiert aus bangem, schmälern Mißtrauen der Eltern. Hier gibt es nicht das ängstliche Zittern um körperliches und seelisches Heil der Jugend! Sicherlich sind alle Gefahren hier nicht geringer oder größer als anderweitig, aber die Menschheit, die junge Menschheitskraft, die sie zu überwinden hat, denkt noch nicht an sie, und gleitet lautlos und unbewußt über sie hinweg glücklich und unbeschadet, gleich einem Kinde, daß ohne Nachteil bei uns vom Dache zur Erde fallen will, während jeder Erwachsene sich bei jedem gleichen Experiment sicher die Beine bricht, — weil er nämlich die Gefahr fürchtet, die das Kind gar nicht kennt!

Edso! —Wenn es schwarze Nacht ist und die Sterne in das große, dunkele Nichts leuchten, dann gibt es kein Edso. Edso beginnt, wenn die schmale, feine Sichel allabendlich breiter und früher und voll und strahlend und so recht als Fackel großer Freude aufstrahlt. "Afrika tanzt, wenn der Mond voll ist"—. Aber es ist nicht allenthalben das gleiche Tanzen, das ich in der guten Stadt Mokwa beim Mondschein sah. Afrika tanzt beim vollen Mond, gewiß! Aber nachher endet das große Afrika in toller bacchantischer Freude, —hier beim Biertopf, da beim Weinkrug (wenn auch nur Palmwein darin ist!), hier im Buschlager, im verbotenen Kosen, dort im Gehöft in Mischung mit ehelicher Pflichtempfindung.

Aber Edso? — das ist anders.

Ich will versuchen es zu schildern. Ich habe es beobachtet und habe viel davon gesehen, vom Morgen bis zum Abend! — Denn am Morgen beginnt die Vorbereitung. Morgens kommt der Junge zur Mutter, wenn sie just zum Markte gehen will und das Kaurigeld in den untersten Korb ihres Marktsatzes legt: "Du, Mutter!" Sie hört nicht! — "Du, Mutter!" — "Nun was denn?" —"Mutter gib mir 20 Kauri!" —"So, du willst wohl wieder Dabinofrüchte (Datteln) oder Bohnenküchel naschen!" —"Nein (sehr verschämt) — nein: heute ist Edso!" Und sicher sagt dann die Mutter nichts. Sie spricht nicht von schlechten Sachen, sie spricht nicht von schlechten Zeiten und Verschwendung; sie hebt den Obersatz ihres Korbes auf und zählt 20 Kauri ab; die nimmt der Junge. Er sagt kein "Oku"(danke), die Mutter will auch keins hören! Er sagt ganz einfach nichts - mit Worten. Aber ich sah den Burschen strahlen.

Einer riß die Fulla (Mütze) herunter und weg war er um die nächste Ecke. Ein anderer schiebt den Raub in die Tasche der Bante (Schurz, Durchzugschurz. Heute besonders noch bei der Arbeit von jüngeren Leuten, sonst unter der Tobe = Burnus und rockartigen Hänger getragen). Dann ab damit zum Allijara. Und wenn sich's ums Edso



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handelt, dann greift alles ineinander. Hier kommt ein Bursch mit 20 Kauri, da einer mit 30 Kauri, einer bringt gar 50 oder 60. Jeder hat seiner Mutter das entrissen, was er erreichen kann, und jeder kennt als echtes Negerkind ganz genau die Grenze des Einflußgebietes auf Mutters Geldbeutel. Es summiert sich. Man kann schon mehrere Töpfe Bier kaufen. Auch mag die Brauerin die Rechnung nicht so genau nehmen, wie bei Alten oder gar bei Feinden. Jedenfalls: es ist Edso und Bier ist da, und die Ehre ist gerettet; die Sokiara haben ihren Gästen etwas vorzusetzen.

Denn das ist wieder merkwürdig und hübsch: Ich habe drei Sokiara-Edso erlebt, habe mit gesehen und fand immer dasselbe Bild —einen freundlich-sympathischen Zustand. Auf der einen Seite tanzten die Jungen unter der Leitung des Sokiarahäuptlings, auf der anderen die kleinen Mädchen unter der Führung der Soro (siehe nächster Abschnitt). Die Burschen tanzten nur ganz im Anfang ein klein wenig untereinander. Dann überließen sie das Schlachtfeld der Anmut der Mädchen und die tanzten zu zweien immer umeinander, zierlich, trippelnd, sehr ernst und mit ausgesprochenem Anstand. Die männliche Jugend sah zu. Aber während in Europa die eigentlich Blasierten zwischen 20 und 30 Jahren zur wirklichen Männlichkeit herüberstolpern, sind die Blasierten der Mokwajugend zwischen 11 und 17 Jahren, also in der mittleren Sokiara zu suchen. Das ganze Bild hat etwas ungemein Drolliges. Die Soromädchen tanzen, die Sokiara schauen mehr oder weniger gleichgültig zu. Nur wenn ein Ringspiel eingeschaltet wird, nur dann erwachen sie. Sonst üben sie sich als Wirte. Die alten Herren des Ortes oder des Stadtviertels sind die Gäste der Sokiara; die Alten lassen sich mit dem bewirten, was die "Kinder" mit dem von Mutter Erbettelten bezahlen. Es ist als ob eine deutsche Verbindung den Gästen ein Fest gibt und es mit dem bezahlt, was den alten Herren abgeluchst ist. Nur trinkt der deutsche Verbindungsbruder heftig mit, während das Sokiaramitglied nichts genießt, weil es eine unglaubliche Schande für die Burschenschaft wäre, wenn ein Jüngling seiner Zugehörigkeit sich betrinken würde.

Zu irgendwelchen sexuellen Regungen und Verstößen oder Uberschreitungen kommt es an solchem Edsoabend auf keinen Fall, wie überhaupt das sexuelle Moment im Sokiaraverband bis zur Verehelichung kein Hausrecht genießt. Und doch gibt es einige Sitten, die uns sehr leicht das Entgegengesetzte glauben lassen könnten. Vor allem leistet sich der Sokiaravorstand sehr eigenartige Witze. Er kann seine Bürschlein aussenden mit dem Auftrage, ihm ein Mädchen mit vollentwickelten Brüsten einzufangen. Sie werden es tun. Und da das Mädchen natürlich sehr bald merkt, um was für einen Scherz es sich handelt, so wird sie gar nicht so sehr widerstreben. Ja, die Mädchen sind unterwiesen, sich dem Zeremonial gegenüber



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durchaus entgegenkommend zu verhalten. Wenn die Jungen kommen, ihr den erteilten Auftrag mitzuteilen, legt sie sich auf die Erde, die beiden Hände auf die Brüste, die Beine gespreizt, gewissermaßen bereit zum Empfange. Dann folgt sie den Jungen zu ihrem Sokiarahäuptling. Sie geht mit ihnen zu ihm hinein. Er zieht sie auf seinen Schoß, so daß sie auf seinem Unterleibe sitzt, hält sie mit den Armen umschlungen und führt Bewegungen mit dem Unterkörper und den Beinen aus, die nicht mißzuverstehen sind. Und doch gilt das in "ihren" und in "seinen"und den Augen aller zuschauenden Knaben als "harmloser Scherz", wenn er auch vom Morgen um 6 Uhr bis abends um 6 Uhr geübt wird. —Wie gesagt, es gibt vieles, daß wir so leicht nicht zu verstehen vermögen. Denn darin sind sich alle einig, daß das harmlos ist!

Der Sokiara oder die Einrichtung der Sokiara ist eine weitläufige Organisation. Über allen Sokiara steht der oben erwähnte Dako (Vater) Su oder Tsu, der von der Gemeinschaft aller Knaben und Sokiarahäuptlinge gewählt wird und ein allgemeines, durchgehendes Vertrauen genießt. Er ist wie ein Kaiser der Jugend. Wenn seine Farmen bestellt werden müssen, teilt er es den einzelnen Sokiara mit, und dann versammelt sich die gesamte Jugend zu gemeinsamem Werke. Sie vollenden unbedingt die ihnen notwendige Arbeit, wenn auch Vaters Farmwerk dadurch aufgehalten wird. Er ist es, der über die Neuwahl und Ablehnung eines neuen Sokiarahäuptlings zu entscheiden hat.

In jeder einzelnen Sokiara gibt es eine genau vorgeschriebene Ordnung und bestimmte Beamte, die die Allijara selbst erwählt und die seinen Hofstaat bilden. Es handelt sich besonders um drei verschiedene Typen, I den Schaba oder Jaba (Saba), 2. den Soasun, 3. den Idetschi. Der erste ist der Stellvertreter des Sokiarahauptes, er entspricht dem Jerima und Galadima, hat immer die Vertretung, wenn der Allijara abwesend ist. Sollte, was sehr selten vorkommt, der Sokiarahäuptling abgesetzt werden, so tritt er an seine Stelle und hat die Geschäftsführung in der Hand. — Den Soasun oder Soasung dürfen wir als den Hauptboten und Übermittler der "Regierungsbefehle", auch als Polizisten in Anspruch nehmen können. Wenn auch nur die Ausübung der niedrigsten Gerichtsbarkeit in seinen Händen liegt. Dagegen ist der Idetschi der Kassenführer der kleinen Gemeinde, der Bankier der Gesellschaft. Bleibt irgendein Mitglied eine "kommunale Steuer" oder einen Teilbetrag an einer Gesamtausgabe der Sokiara schuldig, so teilt der Idetschi dies dem Sokiarahäuptling mit, und der sendet dann den Soasun, den Polizeileutnant, daß er dem Säumigen Matte, Kleid oder sonst einen Gegenstand wegpfände, der dem geschuldeten Wert entspricht. Und kein Vater, keine Mutter wird dagegen Einspruch erheben können.



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Aber wie gesagt, nur die niedere Gerichtsbarkeit und Innenorganisation der Sokiaraverbände liegt in deren eigenen Händen. Sowie die Sokiaramitglieder einen ernsteren Mißgriff gegen die herrschende Staats- und Polizeigewalt sich zuschulden kommen lassen, als da ist Farmraub oder aggressive Belästigung von Weibern usw., so greift der Staat, die Staatsleitung ein.

Im Sokiara aufgenommen sein, bedeutet so viel wie die Alma mater besuchen dürfen. Es ist die ausgezeichnete Schulung der Männer, an der alle teilnehmen dürfen. Und im Sokiara entstehen die Freundschaften fürs Leben.


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