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VOLKSERZÄHLUNGEN UND VOLKSDICHTUNGEN


AUS DEM ZENTRAL-SUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 2 KARTENBEILAGEN

4. Entwicklung der Knaben

Die Kinderentwicklung ist bei den guten Bauern Mokwas nach eigener Angabe normal folgendermaßen zu berechnen: Nach 5 Monaten kann das Kind aufrecht sitzen; nach 7 Monaten kriecht das kleine Individuum auf allen Vieren; nach 20 Monaten kann es aufstehen, aber noch nicht laufen; nach 30 Monaten kann es aber auch dieses. Damit stimmt auch die Nahrungsweise gut überein: eine tüchtig veranlagte Mutter pflegt ihr Kind 30 Monate lang zu stillen, aber schon 25 Monate nach der Geburt übt sie mit dem Gatten wieder Geschlechtsverkehr. Also tritt für die gute und naturgesunde Frau alsbald und ordnungsgemäß eine neue Schwangerschaftsperiode ein, so daß die Milch versiegt. Aber der kleine Sproß hat sich allgemach schon an Enthaltsamkeit in dieser Richtung gewöhnt. Im allgemeinen bekommen (besonders Erstlinge) nur vom vierten Tage bis zum siebenten Monat des Lebens lediglich Muttermilch. Im siebenten Monat wechselt die Milchgabe mit Esun (oder



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Edsun) ab. Das ist dasselbe wie das Kaffu der Haussa und das Eko der Joruba, eine aufgebrühte, kakaoartige aber dicke Brühe von feingemahlenem Sorghummehl, dem allerhand wesentliche Ingredienzien zugefügt sind, die man als Nerven oder Appetit anregende Medizin in Anspruch nimmt. Derartige Dekokte bekommt aber nicht etwa nur das siebenmonatliche Kind, sondern auch die Mutter, und zwar diese mit dem ausgesprochenen Zweck, die Milchproduktion zu erhöhen. Trotz der Maßnahme schwindet der Sprudel der Natur doch mehr und mehr, und, wie gesagt, mit 30 Monaten versiegt er, um für neues Leben Entwicklungskraft zu sammeln. Damit ist das Kind ganz bei der Breinahrung angelangt.

Was sonst dem kleinen Erdenbürger zunächst blüht, ist kurz berichtet. Am siebenten Lebenstage hat ihm der Guansam, der Barbier, auch die Tätowierung, die Edsa, beigebracht, die in zarten Schnitten und ohne Farbstoffeinführung vorgenommen ist. Irgendeine Beeinflussung oder Verstümmelung der Zähne ist nicht Sitte. Dagegen üben fast alle Stämme dieses Winkels, mit Ausnahme vor allem der Kamberri, die Beschneidung des Knaben (nicht die des Mädchens).

Betreffend dem Ursprung der Beschneidungssitte hat sich die Sage erhalten, daß früher sehr häufig infolge mangelnder Reinlichkeit zwischen Glans und Präputium (Eichel - Kunkona; Vorhaut - Badu) sich Schmutzteile sammelten und dann Insekten sich einstellten, die die Eichel nicht nur belästigten, sondern durch Fraß beschädigten. So kam man denn dazu, durch die Beschneidung dem Übel vorzubeugen. —Heutzutage werden die Knaben im Alter von etwa 8-10 Jahren und nur sehr wenige im Alter von 7 Tagen beschnitten. Ausgeführt wurde die Operation angeblich auch früher, sicherlich heute im weitesten Gebiet durch einen darin geschickten, sonst aber beliebigen Mann. Als Zeitpunkt wird die kälteste Periode bevorzugt aus hygienischen Gründen, weil nämlich in den kalten Nächten die unangenehmen Erektionen am leichtesten vermieden werden. In den meisten Landgemeinden läßt jeder Familienvater diese Fürsorge seinen Sprossen, unabhängig von den Maßnahmen anderer, dann zuteil werden, wenn der Zeitpunkt ihm am geeignetsten erscheint. In anderen Landesteilen, so in Pategi und Zugurma, versammeln sich die Beschneidungskandidaten zu Genossenschaften. Ebenso ist das bei den Fulbe und ihrem Anhang in Bida Sitte. Aber während bei letzteren wohl Sitten nachklingen, die die Fulbeahnen in Massina und am oberen Niger-Senegal mit den Mande einst teilten, haben wir bei den altansässigen älteren Nupestämmen eine durchgreifende alte Institution vor uns, die wir nachher so eingehend, wie man nur nach kümmerlichen Ruinen Bruchwerke studieren kann, kennenlernen werden. Gerade in den Beschneidungssitten scheinen



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sich bei nordafrikanischen Dunkelstämmen die verschiedensten Kulturperioden mit leichten Nachlässen abgelagert zu haben, so daß es nicht ohne weiteres möglich ist, die Relikte aus den verschiedenen Zeiten voneinander zu differenzieren. Erfreulicherweise scheint aber gerade bei den Nupe ein Zergliederungsverfahren Aussicht auf Erfolg zu haben, ganz besonders weil in diesen Sitten, wie nachher gezeigt werden soll, das Geheimbundssystem der alten Zeit wenigstens teilweise zum Durchbruch kommt (weiteres siehe unter Guno-Ko). Hier wollen wir aber die Entwicklung der Knaben erst im absolut profanen Leben verfolgen, ehe wir auf diese religiös-sozialen Gebiete eingehen.

Etwa von seinem dritten Lebensjahre an kann der Junge sich nach Belieben herumtreiben und austoben, bis er ein Alter von 6 bis 7 Jahren erreicht hat. Dann nähert sich ihm der Arbeitsernst des Lebens, wenn zunächst auch noch mit zartem Anspruch. Alsdann nämlich läßt der Vater beim Schmiede eine ganz kleine Hacke, eine Dugbagi, herstellen, die just geeignet ist, auch von einem Kinderärmchen geführt zu werden. Wenn im Frühjahr der erste Regen fällt, muß das kleine Bürschlein hinter und neben seinem Vater hinaus in die Farm trippeln. Der Vater greift mächtig aus, der Junge hackt spielend nebenbei. Im Anfang ist der kleine Kerl meist feuriger und so draufgängerisch, daß es ohne kleine Unfälle nicht abgeht, das Hackeisen schlägt also einmal in den Fuß, statt in die Erde. Dann kommt er schreiend zum Vater und der fragt: "Was ist denn?" Er antwortet: "Die schlechte Hacke hat mich geschnitten!" Der Vater tröstet ihn: "Dann geh' hin und spiele!" (=Etso.) So naht der Ernst des Lebens in Gestalt kleiner Leiden auch hier schon früh. Der Junge mag für den Rest des Tages nun spielen, bis etwa 5 Uhr; dann heben Vater und Sohn ihr Gerät auf den Kopf und pilgern gemeinsam heim. Am andern Morgen ziehen sie aus, um die Versuche des Jungen zu wiederholen. So verstreicht das erste Frühjahr des Arbeitslebens. Dann kommt der Sommer und die Reife. Nun wird dem Bürschlein ein anderes Amt: er muß das heranreifende Korn gegen die Affen verteidigen. Er ist dazu mit einem starken Knüppel ausgerüstet, pirscht sich möglichst nahe an die frechen Räuber heran und weiß sie dann durch Erschrecken in die Flucht zu treiben. Er schlägt auf den Boden und kreischt und schreit, daß einem das Pferd wild wird, wenn man zufällig in der Nähe vorbeireitet.

Arbeitszeit und Arbeitsplan ändern sich später. Ist der Bursche größer, dann hat er am Morgen von 6-8 mit dem Vater zu arbeiten, hat von 8-9 Uhr Frühstückszeit, um dann noch von 9-3 Uhr auf Vaters Farm zu wirken. Um 3 Uhr pflegt der Vater, der heranwachsende Söhne hat, heimzugehen. Nicht so sein Sohn. Wenn er



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etwa das zwölfte Jahr erreicht hat, pflegt der Vater den eben beschriebenen Arbeitsplan einzusetzen, in dem für den Jungen freier Zeitraum täglich um 3 Uhr beginnt. Nun macht er eine eigene Stelle im Busch urbar. Und wenn er bis 3 Uhr für den Alten und den Familienbesitz geschuftet hat, greift er mit erneuter Kraft zur Hacke, denn was er am Rest des Tages erarbeitet, das ist die Grundlage seines eigenen Besitzes.

Ich habe schon oben einige wenig schöne Charakterzüge der Nupe geschildert. Hier muß dagegen eine sympathische Linie ihres Volkslebens doppelt betont werden: diese Nupe stellen ein unendlich fleißiges Ackerbauernvolk dar, das, da es bis zur Fulbezeit auch noch in großer Mäßigkeit, sehr sparsam und genügsam arbeitete, hierin merkwürdig an die Chinesenart erinnert. In der Tat muß Nupe wie ein einziges großes Farmland dagelegen haben, überreich an Feldern und menschenvollen Landstädten. Diese Tatsache lese ich aus allen Berichten heraus. Das Land brachte an Bodenfrüchten, an Baumwolle und Menschen und auch an intelligenter Arbeitskraft so viel hervor, daß es das Korn in andere Länder exportierte, daß seine Baumwollstoffe und Toben einen großen Ruf durch den ganzen Zentralsudan hatten, daß es einen guten Prozentsatz jungen Nachwuchses mit Leichtigkeit auf die Sklavenmärkte an der Küste und im Inland senden konnte. —Das war der Höhepunkt der Edegiperiode, und die Fulbe haben dies Bild so gründlich zerstört, wie nur denkbar. Wer durchs Nupeland reitet, muß auf die Beine seines Pferdes achten, weil es im Grase allenthalben über altverwachsene Farmfurchen und Mauerreste stolpert!

Wer es in einem solchen Lande zu etwas Wirklichem bringen will, der muß beizeiten anfangen; die ganze Atmosphäre atmet hier Wirksamkeit und Weiterstreben. —Also schafft unser zwölfjähriger Bursche bis in die Nacht hinein, bis über 6 Uhr hinaus an seinem Acker. Dann erst tritt er den Heimweg an. Die mütterliche Besorgnis ist natürlich bei so früher Anspannung aller Kraft nicht ohne Bedenken. Sie sagt zu dem spät Heimkommenden: "Du kommst jetzt erst um 6 Uhr (=Magori) heim, wo es schon Nacht wird! Vergißt du, daß es schon dunkel ist? Daß eine Schlange (Evoa) dich beißen kann?" Die Mutter reicht ihm dann einen Krug Wasser, und er wäscht sich.

Im übrigen zeigt sie sogleich, daß in diesem Lande kein Raum für Sentimentalität ist. Sie sagt ihm: "So, nun geh und such dir dein Essen selbst." Der Bursche trollt ab. Eine neue Seite eines überaus poetischen Lebens eröffnet sich uns. Unser Bursche geht dahin, wo im Mondschein die jungen Mädchen im Takte mit den Händen klappen und tanzen. Dort tanzt der große Junge und dort gewinnt er auch seine Ätzung. Hier spielen Verhältnisse und Zustände,



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die dem Europäer fast unverständlich sind. Im alten Nupe hatte jeder Freund (Eja-bagi; Haussa =Sarendjsche) seine Freundin (Eja-endschugi; Haussa =Sarendsche) schon in diesem jugendlichen Alter. Das sind Freundschaftsarten, die lediglich unter großen Kindern vorkommen und auch bei uns vorkommen können. Der Bursche ist, wenn sie geschlossen wird, zwischen 10 und 12 Jahren, das Mädchen wohl zwischen 9 und 11 Jahren alt. Das heißt, es sind das in Afrika schon recht gefährliche Jahre.

Die Auslösung der Freundschaftsempfindungen spielt sich aber auch originell genug ab. Während der Bursche tagsüber der Feldarbeit nachgeht, sitzt das Mädchen auf dem Markte und verkauft Produkte des Gartens, der Farm und des mütterlichen Kochtopfes. Da weiß sie nun sehr wohl ein wenig von dem Gelde, das für die Erdprodukte eingeheimst wird, beiseite zu bringen und dergleichen auch einiges von Topferzeugnissen. Mutter weiß das natürlich ganz genau, denn einmal hat sie das in ihrer Jugend ebenso gemacht, also daß es eine Volkssitte ist, und zweitens ist es ihr natürlich bekannt, daß ihre Tochter einen Freund hat, der -mit ihr schläft!

Ja, abends wenn der Bursche vom Felde kommt und sich daheim gewaschen hat, begibt er sich zu seiner Freundin, seinem Mädchen. Daschnabuliert er und füllt den Magen mit den Ergebnissen morgendlicher Sparsamkeit und merkantiler Kunstgriffe seiner Freundin. Wenn er gesättigt ist, beginnt ein Tänzlein. Das ist besonders die Freude der Mädchen, und ich hörte den Ausdruck der Jünglinge: "Wir tanzen dann für die Mädchen." — Dieser Tanz hat für diese Naturkinder, zumal wenn ihnen noch jede Geschlechtserfahrung fehlt, keinerlei geschlechtlich-sinnlichen Anreiz. Es ist ja nicht wie bei uns, wo sich Körper an Körper schmiegt. Man wird und empfindet nichts anderes, als was man den ganzen Tag über und alle Tage im Jahre gleichmäßig sieht und empfindet: Körperformen und Körperbewegung. Das Blut rinnt schneller, oder man hat sich tagsüber ausgearbeitet, daß man einmal zum Schlummer ausgestreckt nur noch am Schlafe volles Glück findet.

Also ist der Bursche dem Mädchen nicht mehr so gefährlich, auch wenn, was in der Tat meist der Fall ist, nun beide gemeinsam zu Bett gehen und ihre Körper, unter dem Zeichen des Gottes Morpheus eng aneinander schmiegen. Und niemand nimmt daran Anstoß. — Jüngere Burschen gehen um 9, größere zwischen 10 und 11 Uhr zu Bett. Aber des Morgens um 5 Uhr ist alle Welt wieder auf den Beinen. Der Zauber der Kindernacht verfliegt. Hacke und Farmland ist die Parole für den einen Teil, Mörser, Kochtopf und Marktschemel für den anderen.

Alles das erinnert wieder und wieder an das, was ich seinerzeit bei Kabre und Losso kennenlernte. Wenn die Sittenformen auch



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manche gegensätzliche Wirkung gezeigt haben, so sind die Grundlagen solcher Jugendfreundschaften doch die gleichen. Eine uns fremd gewordene Welt, deren poetische Reize wir kaum mehr ahnen können.


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