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VOLKSERZÄHLUNGEN UND VOLKSDICHTUNGEN


AUS DEM ZENTRAL-SUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 2 KARTENBEILAGEN


Die Nupe Ein Volk zentralsudanischer Hochkultur


1. Geschichte des Reiches

Wenn man von irgendeinem Volke oder Lande des inneren Westafrikas erhoffen kann, daß es auch durch geschichtliche Tiefe und kulturgeschichtlich hervorragende Eigenarten Ausblicke auf einstiges Durchdringen bis zur Lösung größerer Probleme gewähren werde, so ist das bei dem Volke und Lande der Nupe berechtigt. Der alte arabische Schriftsteller kennt dieses Land schon als Sitz einer Kultur, die dem Islam den Eintritt verweigert. Darin liegt fürs erste das Schwergewicht Nupes und seiner Stellung im Kulturrahmen Afrikas. Das Reich und das Land der Nupe war im Mittelalter das Bollwerk der atlantischen und der sudanischen Kultur gegen den Ansturm des Islam vom 9. bis 15. Jahrhundert. Wäre Nupe als heidnische Macht in jener Periode unterlegen, dann würden die sehr anpassungsfreudigen Joruba ganz sicher den Islam übernommen und ihre alte atlantische Religion, ihr Kunstgewerbe und ihren ganzen reichen Kulturbestand gegen den Koran eingetauscht haben — wir hätten dann in diesen Dingen heute in Westafrika nichts mehr zu studieren gehabt.

Nupe hat also als Reich schon nach dieser Richtung ganz hervorragendes Interesse. Was jener alte Araber in einem Satze sagt, läßt sich aber auch mit den von mir aufgespürten Tatsachen der Überlieferung, Kulturerbschaft und Kulturtiefe in Einklang bringen. Es gelang uns, die alten Überlieferungen sehr weit zu verfolgen, und was wir danach übersehen können, ist ein Zeitraum von über fünf Jahrhunderten -für afrikanische Verhältnisse ein gewaltiges Stück. Die entsprechenden Überlieferungen und Aktenstücke werden in Atlantis Bd. V veröffentlicht. Hier soll zunächst einmal geschildert werden, wie die Aufzeichnungen zustande kamen und was sie im Rahmen der afrikanischen Geschichte bedeuten.

In dem alten heidnischen Nupe muß der Ahnendienst ähnliche Formen besessen haben wie im Mossiland, wo ich sie gottlob noch lebendig fand. Vor allem ward beim jährlichen großen Totengedenktage von den Priestern des tellurischen Manismus das Gebet in geordneter Folge hergesagt. Man rief die Ahnherrn der Reihe nach an, forderte sie auf, das Opfertier gnädig in Empfang zu nehmen und dafür der Ackerarbeit, der Familienvermehrung usw. ihren Segen zuzuwenden. Um eine sehr wesentliche Differenz gleich hier zu bedauern, sei auf den Punkt hingewiesen, der leider dunkel geblieben ist, für den aber auch seinerzeit bei systematischem Weiterforschen der Tag der Aufhellung kommen muß. Die Überlieferung



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weiß genau, daß im Wandel der geschichtlichen Einflußsphären, denen Nupe unterworfen war, die Volkssitte des Matriarchats gegen die des Patriarchats vertauscht wurde. Die Angaben über diese Periode oder den Zeitpunkt, in dem das geschah, schwanken außerordentlich. Und doch wäre ein Wissen in dieser Sache hochwichtig, denn die Eingeborenen selbst haben mich auf folgendes aufmerksam gemacht.

Das große manistische Jahresgebet soll in den bürgerlichen Familien noch lange Zeit die matriarchalische Reihenfolge bewahrt und teilweise nur die Mütter, teilweise die Onkel (Mutterbrüder) erwähnt haben, während in den regierenden Familien schon seit sehr viel längerer Zeit der Bruder dem Bruder und der Vatersohn dem Vater als Gekrönter folgte. Diese Sache würde nun sehr leicht zu entscheiden sein, wenn es gelänge, Stammbäume Privater aufzuzeichnen. Leider konnte ich das nicht erreichen. Die Fulbe haben mit ihrem Einzuge und Siege alle alten Sitten dieser Art gründlich ausgerottet, und nur dem glücklichen Umstande, daß einer der Priester des nupeschen Manismus in die Kabbaberge floh und dort die alte Reihe für seine Nachkommen aufschrieb, verdanken wir es, daß wir die alten Könige genau datieren können. Im Gebet (und der Niederschrift daher ebenso) wurde bei Namensnennung eines jeden der alten Herrscher hinzugefügt, wie lange er regiert hatte. Das Wertvollste aber ist, daß am Ende des Gebetes die Zahl der aufgeführten Herrscher und die Gesamtheit der durchregierten Jahressumme zahlenmäßig aufgeführt wurde. Die Angabe des Gebetes lautet: "Söhne (Nachkommen) Edegis, die ihr 22 Köpfe durch 366 Jahre 9 Monate über die Nupe geherrscht habt. Malemdando (Malern Dando) hat euch (d. h. eure Nachkommenschaft) ausgewiesen." Mit dieser Angabe aus Mokwa stimmt eine in Bida gefundene Abschrift überein. Sie gibt außerdem genau die Zahlen der Regierungszeit jedes Herrschers an, und diese sind - falsch. Es hat sich also in dieser Abschrift die Gesamtzahl (366 Jahre 9 Monate) richtig erhalten, wogegen die Summe der Einzelangaben falsch ist. Endlich habe ich eine aus Kaba stammende Abschrift, in der die Zahl 366, 9 fehlt, worin die Summe der Regierungszeit der Herrscher genau 366 Jahre ausmacht. Wir haben also eine ziemlich verbreitete, sehr genaue Zahl von Jahren für die vor dem Fulbeeinbruch herrschende Dynastie. Das ist die Basis, auf der ich nach vorn und rückwärts das Material gegliedert habe. Da nach klarer Angabe die Fulbeherrscher den 20. Edegisprossen im Jahre 1806 heraussetzten, so ist der berühmte Edegi im Jahre 1437 gestorben.

Das ganze Geschichtswerk gruppiert sich um Edegi. Man will ihm jede Legende, alles Gute zudichten. Wer war nun dieser Edegi, der durch 68 Jahre Nupe von 1369 bis 1437 regiert und reorganisiert hat?



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Die durch Jahreszahlen ziemlich klar gestellten Perioden der Nupegeschichte sind:

1. 1275-1437 Die Entwicklung der Edegiperiode.
2. 1437-1806 Die Periode der 20 Edegisprossen.
3. 1806-1901 Die Fulbeperiode.

In großen Zügen ist das allgemeine Bild dieses Werdeganges folgendes. Im Jahre 1275 ist eine Dynastie des Nupelandes zerstört worden durch eine Invasion der Joruba. Was für eine Dynastie dies war, läßt sich vielleicht ahnen, aber bis jetzt nur schwerlich beweisen. Ich komme später darauf zurück. Alle Angaben stimmen aber in dem einen Punkt überein, daß Ednu Bake anscheinend im Lande zur Herrschaft gelangte, weil im Osten das eigentliche Königtum vernichtet wurde durch die Joruba. Die Jorubainvasion ihrerseits soll dadurch entstanden sein, daß in Alt-Oje eine neue Dynastie aus dem Borgustamme ans Ruder kam. Die neue Jorubaherrschaft eroberte fast das ganze Nupeland, jedenfalls ganz Transkaduna, wodurch in Ciskaduna der tapfere Ednu Bake erstand, der die Ostteile des Reiches aber auch nicht anders zu schützen wußte, als indem er sie als Tributstaat des Igarareiches erklärte; dessen Mittelpunkt Ida am unteren Niger war. Die Stadt Ida heißt bei den Nupe Atagara, was aus Ata (=König) der Igara entstand.

In dieser ersten Periode von 1275-1437 sehen wir West-Nupe unter dem Jorubajoche, dagegen den Osten unter einer neuen Dynastie, die dem Ata und dem Igara ergeben ist. Edegi war ein Sohn der Bakedynastie, der als Bürge oder Geisel nach Ida gesandt war, und Edegis Bedeutung beruhte darin, daß er aus Ida floh, daß er Ost-Nupe erst unabhängig machte und dann auch West-Nupe wieder vom Drucke der Jorubaherrschaft befreite. Die Berichte über Edegis Tätigkeit und den Zustand, in dem Westnupe 1369 sich befand, sind klar. Westnupe war in vollkommenem Zerfall. Es gab keine Organisation, weder Fürsten noch Altväter, noch irgendeine Art von Herren im großen Sinne. Nur waren in jeder Stadt einige Joruba, die wie Blutsauger das Volk und Land schröpften.

Die Edegisprossen scheinen das Werk des großen Mannes im allgemeinen sehr tüchtig weitergeführt zu haben bis zum 13. Jahrhundert und dem Edsu Djiberin. Dieser verließ die Religion seiner Väter und bekehrte sich zum Islam. Vordem war den Mohammedanern der Eintritt in das Reich verboten, und der Islam gewann nur insofern einen schwachen Einfluß, als die Nupe von den Haussa die islamitische Namengebung annahmen. In Baro versicherte mir ein Nupe, er wisse ganz genau, warum sich die Nupe solange gegen den Islam gewehrt hätten. Es sei das gewesen, weil der Islam die alte Bestattungsweise der Nupe nicht dulden wollte. (Wir werden sie später natürlich näher kennenlernen.) In Lokodja wurde mir das



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bestätigt und zugefügt, daß Edsu Djiberin nicht nur der erste war, der sich freiwillig nach mohammedanischem Ritus bestatten ließ, sondern daß er auch einige seiner königlichen Vorfahren aus ihrem Hallengrabe herausgenommen habe, um sie islamitisch beizusetzen. Später kamen wieder Heiden auf den Thron. Wirklich innerlich eingenistet hat sich die Religion des Propheten bis heute noch weniger als in anderen Negerländern, wo die Sache des Islam doch lau genug betrieben wird.

Mit dem Islam kam aber in entscheidender Weise das große Unglück Nupes, dem es seine höchste Blüte, unendliche Ströme von Blut, sowie seine Wohlhabenheit zum Opfer bringen mußte, ins Land: dringende Entscheidung in der Erbfolgefrage. Ich wies schon oben darauf hin, daß in alter Zeit Nupe matriarchalisch organisiert war, daß wir aber leider nicht wissen, wann das patriarchalische Regime, zum ersten Male Eintritt findend, vor der Tür des Reiches auftauchte. Denn es ist sehr gut möglich, ja für mich sogar wahrscheinlich, daß schon vor dem Islam das Vaterrecht einmal vielerorts siegreich durch das Innere Nordafrikas zog. Aber seine Kraft war bei der Ankunft an der Westseite des Erdteiles doch schon recht verbraucht. Jedenfalls war in Nupe eine lange Zeit der Zustand der gleiche wie in vielen ähnlichen Ländern: einige Familien lebten und pflanzten ihr Kulturgut fort nach dem einen, andere nach dem anderen System; oder es gab schwankende Übergangszustände. Sowie aber der Islam mit seinem Klerus Einzug gehalten hatte, ward die Entscheidung notwendig.

Und dieses Ringen zweier Organisationen in einer Dynastie ward gefährlich, als die Fulbe sich in das Spiel mischten. Von nun an wurden Neffen und Söhne, Vetter und Onkel, Islamiten und Heiden aufs geschickteste gegeneinander gehetzt. Die Charakterschwäche der Nupe förderte und beschleunigte die Zersetzung der Dynastie und erleichterte den Fulbe das Spiel. Einmal noch taucht aus der Fülle von Namen ein Mann auf, der König Zado, der mit wundervoller Kraft, wenn auch aufs brutalste, nach altem Heidenritus über das Land hinbraust. Damit ist dann aber auch die Edegidynastie verbraucht. Im Jahre 1857 bestieg der Fulbe Usman Saki endgültig den Thron des alten Reiches. Nupe ward ein Vasallenstaat Gandus. Im Jahre 1901 machte die englische Regierung diesem Zustand ein definitives Ende, indem sie Bukari absetzte und damit ihre Unzufriedenheit mit der fulbeschen Skiavenwirtschaft ausdrückte.

Dies ist in großen Zügen das Bild, das ich von dem Werdegange des Nupereiches vom Jahre 1275 bis heute gewann. Es gewährt uns allerhand Ausblicke. Bei diesem Stande der Dinge dürfen wir hoffen, noch sehr viel weiter in die Probleme dieser Werdegange zu dringen. Vor allen Dingen werden wir danach trachten müssen, Anhalts



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AUSDEHNUNG DES NUPEREICHES IM VORIGEN JAHRHUNDERT



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punkte dafür zu gewinnen, welcher Art die Dynastie war, die von 1275 über Nupe herrschte, jene Dynastie, die von den Joruba im Westen des Reiches verjagt wurde.

Denn die Worte des alten Arabers lassen uns annehmen, daß es starke und kulturreiche "Heiden"waren, die hier herrschten. Jedenfalls liegt die größte Bedeutung des Nupestudiums auf geschichtlichem Boden. Historische Tiefe und Kulturschichtung fordern beide ihr Recht auf Anerkennung. Alles was wir an eigenartiger Kultur noch in Nupe gesehen haben, zwingt mich zu der Überzeugung, daß ich in Afrika kein Reich kennen lernte, daß so viel an Kultur eingebüßt hat wie Nupe und doch noch so überraschende Reste birgt.


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