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VOLKSERZÄHLUNGEN UND VOLKSDICHTUNGEN


AUS DEM ZENTRAL-SUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 2 KARTENBEILAGEN

4. Wunder und Zauber

Wir sprechen im allgemeinen von Märchen als einem bestimmten Typus der Volksdichtung. Wir unterscheiden aber auch abendländische und morgenländische Märchen. Damit wird ein Schneewittchen, Dornröschen, Rotkäppchen den Dichtungen, wie sie besonders in der großen indisch-persisch-ägyptischen Sammlung von Tausendundeine Nacht typisch sind, gegenübergestellt. Jeder fühlt, daß beide Wesenheiten, Stilformen, Ausdrücke verschiedenen Lebensgefühis sind, ohne daß es so leicht ist, die Gegensätzlichkeit ohne weiteres scharf zu charakterisieren. Oftmals hörte ich in Gesprächen die Gegenüberstellung bezeichnet durch die Worte: hier Schlichtheit, dort Üppigkeit. Ich kann das aber nur als eine letzte Außenerscheinung anerkennen, als eine Tatsache, hinter der allerdings die bildende Wirklichkeit eines sich ausgestaltenden Lebensgefühls, einer seelischen Polarität erkannt werden könnte.

Gerade die afrikanischen Märchen in ihrer vielfachen Zwitterstellung erfordern nun ein Eingehen auf solche durchaus wesentlichen Unterschiede, und wir werden gleich sehen, daß dort in Afrika die Beantwortung der Frage bedeutend leichter zu gewinnen ist als hier in Europa, das seit Jahrtausenden immer wieder das Eingeborene mit Zugewandertem mischt und kreuzt. Ist doch auch Afrika das Kulturbecken, aus dem mir die beiden Lebensgefühle zuerst in ihrer Wesenheit bekannt wurden, so daß ich zur Gegenüberstellung eines Weitengefühis und eines Höhlengefühis kam. (Vgl. "Paideuma, Grundriß einer Kultur- und Seelenlehre", 1922.)

Aus dem Weitengefühl ergibt sich eine Weltanschauung, die von



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der Anerkennung aller auch nicht erfahrbarer und bekannter Erscheinungen und Kräfte ausgeht, weil sie in der Auseinandersetzung mit dem Außenkosmos begründet ist. Sie ist imaginativ und projiziert die stets aus dem Innern strömende Sehnsucht in das Jenseitige. Deshalb interpoliert sie in jedem Falle, in welchem Erfahrung und Verstand versagen, das Wunder. Das Wunder ist ihr fast selbstverständlich.

Das Höhlengefühl dagegen führt zu einer Weltanschauung, die als solche ausgeht von einem Innenkosmos. Sie ist nicht imaginativ, sondern gestaltend. Sie interpoliert nicht, sondern sie erklärt. Wo Erfahrung und Verstand nicht ausreichen, greift sie aber zum Zauber, d. h. sie schafft ihrem Verstande die Anwendung eines Werkzeuges, das nach Erfahrungen gebildet ist.

Die Weltanschauung des Weitengefühis geht also von der Erklärung mangelnder Erkenntnisfähigkeit aus und gliedert die Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen als Erfahrungszusatz ein. Es ist also eine interpolierende Weltanschauung. Die Weltanschauung des Höhlengefühis bildet dagegen Wesen und Geschöpf nach den Gesetzen der Erfahrung und findet mit deren Hilfe eine Erklärung des sonst Unerklärlichen. Ich bezeichne sie als tektonische Weltanschauung.

Demnach ist Wunder Anerkennung auch unverständlicher Wirklichkeit, Zauber Anwendung einer nur der Allgemeinheit unbekannten, physisch verständlich gemachten Kraft und Kunst. Diese beiden, Wunder und Zauber, sind es, die die Märchenwelt gliedern. Schwer zu erkennen ist das in Europa und Asien, wo Stoffe und Motive vielfach und ununterbrochen ausgetauscht werden. In Afrika aber, wo eine gesunde Natur immer wieder das ihr Adäquate annimmt und das ihr Fremde immer sehr schnell abstößt oder seinem Lebensgefühl anpaßt, treten die Gegensätze scharf hervor. Hier haben wir das Weitengefühl bei den äthiopischen Völkern (Völker der äthiopischen Kultur; siehe "Atlas Afrikanus"), denen der Verkehr mit der Umwelt ein geistig idealer ist, die mit Verstorbenen in Einheit weiterleben, denen das Jenseits und der Außenkosmos ebenso natürlich ist wie der Eigenkosmos. Daneben dann die Völker der hamitischen Kultur; Ablehnung alles rein Seelischen, Furcht vor dem Übeiwillen gespenstiger Toter, Irreligiosität und Fanatismus, schematische Kultur als Bannwerkzeug usw.

Da aber die Religiosität der Äthiopen eine tiefe, ihre Weltanschauung eine selbstverständliche ist, wirken sie nüchtern, während die hamitische Kultur stets bereit ist, das äußere Leben um so reicher zu gestalten als das innere arm ist.

Deshalb muß auch die Erzählungskunst zwei sehr abweichende Typen hervorbringen. Auf äthiopischem Gebiete gedeiht eine äußer



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AUSDEHNUNG DES NUPEREICHES IM VORIGEN JAHRHUNDERT



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Nun findet sich die wesentlich gleiche Erzählung bei den Temne in der Sierra-Leona-Küste, bei denen aber überhaupt nicht der Hase, sondern die Spinne durchgehend der Fabelheld ist. Für eine Spinne aber ist der entsprechende Eingang in den Leib eines großen Tieres, ohne daß dieses etwas von dem Gaste wahrnimmt, durchaus denkbar. Die Mande stehen nun seit uralten Zeiten mit den Westküstenvölkern, mit denen sie Männerhaus, Geheimbundinstitutionen und vielerlei Geräte gemeinsam haben, in enger kultureller Verwandtschaft, so daß wir diese Version Nr. 57 als eine von dort empfangene Anregung ansehen und dann schließen dürfen, daß die Mossi sie nachher von den Mande-Jarsi übernommen haben.

Derart betrachtet, kommen wir in Anbetracht der großen sonstigen Ähnlichkeit und der Interesselosigkeit der Mossi zu der Möglichkeit, daß die ganze Volksdichtung der Mossi nichts weiter sei als Mande-Jarsi-Import, demgegenüber nur wenige Stücke (z. B. Nr. 105 stammt mit dem Kamel, das den Mossi selbst fehlt, sicher aus den Haussaländern) von anderer Seite kommen, keines aber im tieferen Sinne ursprüngliches Mossibesitztum sein dürfte.

Von solchem Gesichtspunkte aus die vorliegenden Materialien prüfend, findet man weitgehende Bestätigung, vor allem: ursprüngliche Originalität, die bei den Mande so reich wirkt, fehlt. Die Volksdichtung der Mossi ist ein Spiegel jener der Mande. Die Mande übernahmen auch einen großen Teil der Motive, d. h. die Materie der Volksdichtung von anderen Völkern; sie bewirkten aber die eigentliche Dichtung doch selbst. Der Stil der Mandevolksdichtung ist produktiv; die Mossi bildeten nur nach, kopierten nur; ihr Stil ist lediglich reproduktiv.

Das Ergebnis stimmt genau überein mit anderweitigen Beobachtungen. Die Mande schufen aus ihrer tatsächlichen Vergangenheit wirkliche Dichtungen (Sunjattalegende in Bd. V und Epen in Bd. VI), die Mossi nur traditionelles Bruchstückwerk (Bd. V). Die Mande bildeten gleich den Kassaivölkern Legenden der dämonischen Subachen aus; die Mossi übernahmen eine solche von den Jarsi (vgl. Bd. VII). Eigene Blüten, wie die dämonischen Dichtungen der Bosso-Sorokoi oder die der Haussa, konnten auf dem Volkstum der feudalen Mossi ebensowenig gedeihen wie eine eigene Religion.

Das ist der stilistische Gegensatz, der die ersten beiden Volkserzählungsweisen der Sudaner unterscheidet.


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