Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

ERZÄHLUNGEN AUS DEM WESTSUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



Atlantis Bd_08-0004 Flip arpa

TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT DREI TAFELN

122. Die Gewittergeschwister

Ein Mann hatte eine Frau und von der einen Knaben und ein Mädchen, mit denen wohnte er in einem hübschen Hause. Eines Tages sagte der Mann: "Wir wollen uns verstecken und abwarten, ob wir nicht vielleicht Naba Uende (Herr Gott =Mangalla der Bammana) sehen." Der Vater versteckte sich im Speicher. Die Mutter versteckte sich in dem großen Topf, in dem sie das Essen für den Haushalt kochte. Der Sohn versteckte sich in dem großen Topf, in dem sonst das Wasser aufbewahrt wurde. Die Tochter versteckte sich in der Wasserkalebasse. Alle hatten sich versteckt.

Nach einiger Zeit steckte die Tochter den Kopf ein wenig heraus. Naba Uende rief: "Komm hierher!" Das Mädchen kam heraus und ging zu Naba Uende. Naba Uende fragte: "Wo ist dein Vater?" Das Mädchen sagte: "Ich weiß nicht, wo mein Vater ist." Naba Uende sagte: "Wenn du mir nicht sagst, wo dein Vater ist, so töte ich dich. Sage es sogleich!" Das Mädchen sagte in seiner Angst: "Der Vater ist im Speicher." Sie rief zum Speicher hin: "Vater, komm doch heraus, Vater, komm doch! Naba Uende will dich sehen!" Der Vater kam heraus.

Darauf tötete Naba Uende den Vater, kochte ihn und sagte zu dem Mädchen: "Nun iß deinen Vater!" Das Mädchen sagte: "Das kann ich nicht!" Naba Uende sagte: "Wenn du es nicht auf der Stelle kannst, töte ich dich." Endlich aß das Mädchen seinen Vater.

Naba Uende fragte das Mädchen: "Wo ist deine Mutter?" Das Mädchen sagte: "Ich weiß es nicht!" Naba Uende sagte: "Wenn



Atlantis Bd_08-281 Flip arpa

du es nicht sogleich sagst, töte ich dich!" Darauf sagte das Mädchen: "Meine Mutter ist im großen Kochtopf!" Sie wandte sich in der Richtung zum großen Kochtopf und rief: "Mutter, komm doch heraus! Naba Uende will dich sprechen!" Die Mutter kam heraus. Naba Uende schlug sie tot, kochte sie und sagte zu dem Mädchen. "Nun iß deine Mutter!" Das Mädchen sagte: "Das kann ich nicht. Naba Uende sagte: "Wenn du es nicht auf der Stelle kannst, töte ich dich!" Endlich aß das Mädchen seine Mutter.

Naba Uende fragte das Mädchen: "Wo ist dein Bruder?" Das Mädchen sagte: "Ich weiß es nicht!" Naba Uende sagte: "Wenn du es nicht sogleich sagst, töte ich dich!" Darauf sagte das Mädchen: "Mein Bruder ist wohl im großen Wassertopf; ich will ihn holen." Das Mädchen ging zum Wassertopf und sagte zu ihrem Bruder: "Naba Uende ruft dich. Geh aber nicht hin, denn wenn du hingehst, so wird er dich töten und wird dich kochen, und mich wird er nachher zwingen, dich zu essen. Wir wollen lieber fliehen."

Darauf liefen der Bruder und die Schwester von dannen und kletterten auf eine hohe Kongo (Fächerpalme). Das Land, über dem der Kongo emporragte, gehörte einem besonderen Naba, der pflegte sich täglich unter den Palmbaum zu setzen und da sein Bier zu trinken. Als die Geschwister auf den Baum geflohen waren, kam der Naba mit seiner Kalebasse voll Bier und nahm unter dem Baum Platz. Der Bruder und seine kleine Schwester sahen gerade auf den Naba herunter.

Nach einiger Zeit sagte der Bruder zu seiner Schwester: "Schwester, ich möchte einmal pissen! Ich könnte dem Naba gerade in die Bierkalebasse pissen." Die Schwester sagte: "Tue das ja nicht. Wenn du das tust, würde er uns sehen, und wenn er uns nicht selbst tötet, würde er jedenfalls alles dem Naba Uende (dem Herrgott) sagen. Der würde uns finden, und dann wäre es mit uns zu Ende. Darauf unterließ es der Bruder.

Nach einiger Zeit kam aber dem Bruder die Lust an, zu kacken. Er sagte zu seiner Schwester: "Ich möchte einmal kacken! Ich könnte gerade dem Naba da unten in die Bierkalebasse kacken!" Die Schwester sagte: "Laß das ja sein! Wenn du das tust, würde der Naba uns sehen, und wenn er uns aus Zorn darüber nicht selbst tötet, so wird er es dem Naba Uende sagen. Der würde uns finden, und dann wäre es mit uns zu Ende." Darauf unterließ es der Bruder.



Atlantis Bd_08-282 Flip arpa

Der Bruder mußte aber immer daran denken. Nach einiger Zeit sagte er zwar nichts zu seiner Schwester, aber er kackte, und dabei traf er gerade den Biertopf des Naba da unten. Der Naba sah in seinen Biertopf und sagte: "Es ist etwas von dem Kongobaum gefallen. Es muß wohl jemand da oben sitzen." Er sah hinauf. Da sah er Bruder und Schwester. Sogleich rief er einige Leute mit Beilen herbei und sagte: "Schlagt mir den Baum um, daß ich diese Menschen fasse." Die Leute schlugen mit den Äxten ordentlich darauf los. Als aber der Baum so weit durchgeschlagen war, daß er beinahe umfiel, schnalzte der Bruder mehrmals. (Der Erzähler führt dies dental aus, und zwar in der Weise, in der man bei uns wohl einen Hund lockt oder das Traben des Pferdes auf dem Pflaster nachahmt.) Darauf war der Baum sofort wiederhergestellt, als ob nie eine Axt einen Schnitt an seinem Stamm ausgeführt habe.

Die Leute begannen also von neuem mit den Äxten auf den Baum einzuschlagen. Als sie den Baum wieder bis zum Umstürzen durchgeschlagen hatten, schnalzte der Bruder wieder. Da war er wiederhergestellt. So ging das mehrfach. Aber endlich wollte der Baum doch stürzen. Da erhoben sich der Bruder und die Schwester in die Lüfte und begannen von dannen zu fliegen. Dabei jauchzte der Bruder laut heraus. Die Schwester lispelte leise: "Mein Bruder, laß das! Naba Uende merkt uns!" Doch der Bruder ließ es nicht.

Bruder und Schwester sind heute noch im Himmel. Der Bruder verursacht mit seinem Jauchzen die Gewitterschläge. Die Schwester warnt mit leisen Worten, das ist das "Wuwuwuwu", das leise Grollen.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt