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Kapitel 

ERZÄHLUNGEN AUS DEM WESTSUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT DREI TAFELN

121. Der Zahnschmuck des Waisenmädchens

Die Mutter eines Mädchens war gestorben. Nur sein Vater lebte noch. Der hatte eine zweite Frau, und die zog das Mädchen auf. Die Frau hatte selbst eine Tochter; für die besorgte sie alles Gute, was es gab. Ihre eigene Tochter bekam schöne Kleider. Das mutterlose Mädchen mußte sich aber Fliegen fangen und aus deren Flügeln sich ein Kleid herstellen, wenn es nicht nackt gehen wollte. Das eigene Mädchen bekam gutes Essen, das andere nur schlechte Abfälle.

Eines Tages wollten alle Mädchen in einen anderen Ort gehen, um sich da die Zähne (nach hiesiger Mode) zustutzen zu lassen. Die Halbwaise wollte auch gern die Zähne gestutzt haben. Als aber



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die anderen Mädchen schon zum Gehen sich angezogen hatten, sagte ihre Stiefmutter: "Du mußt mir noch diese Arbeit machen." Das Mädchen begann die Arbeit. Die anderen gingen. Als sie fertig war, sagte die Stiefmutter: "Du mußt mir noch diese Arbeit machen." Das Mädchen vollendete auch das noch.

Dann lief die Haibwaise den anderen Mädchen nach. Als sie sie eingeholt hatte, jagten die anderen sie fort und sagten: "Bleib weg, du hast zu häßliche Kleidung." Das Mädchen lief nochmals nach. Die anderen jagten sie wieder fort und sagten: "Bleib weg, du hast zu häßliche Kleidung. Wir wollen nicht mit dir gehen." Die Halbwaise kam zum dritten Male nachgelaufen. Eines der anderen Mädchen sagte zu den Genossinnen: "Wartet, ich will sie schon wegbringen, so daß sie nicht mit uns gehen kann." Als die Halbwaise ankam, sagte das Mädchen: "Lauf noch einmal zurück; bring mir ein anderes Kleid. Wenn du mir den Gefallen tust, wollen wir dich mitnehmen, und so kannst du dir auch die Zähne stutzen lassen. — Komm nur schnell nach. Dicht hierbei ist ein Kreuzweg. Achte darauf, welche Seite wir dir als die richtige bezeichnen. Dann kommst du noch rechtzeitig an." Die Halbwaise sagte: "Es ist gut." Sie lief zurück, das Kleid zu holen.

Als sie fort war, sagte das andere Mädchen: "Nun werden wir ungestört bleiben, wir wollen dem aufdringlichen Kinde in seiner häßlichen Kleidung einfach den falschen Weg angeben." Die anderen sagten: "Es ist gut!" Als sie an den Kreuzweg kamen, gaben sie den falschen Weg als den richtigen an. So kam es, daß, als die Halbwaise nun endlich doch noch nachgelaufen kam, sie durch die falschen Zeichen auf den falschen Weg geführt wurde. Der falsche Weg führte zu den Kinkirsi. Die Halbwaise kam so bei den Kinkirsi an. Als sie sah, wo sie war, begann sie zu weinen. Die Kinkirsi sagten: "Du brauchst nicht zu weinen, wir essen keine Menschen. Sage nur, was es gibt." Die Halbwaise erzählte ihr Unglück. Die Kinkirsi sagten: "Wenn es weiter nichts ist! Zähnestutzen können wir besser als andere. Du darfst nur nachher bis zum siebenten Tage nicht so laut lachen, daß man dir in den Mund sehen kann." Die Halbwaise sagte: "Das will ich wirklich nicht tun."

Die Kinkirsi stutzten ihr die Zähne und taten Gold und Silber hinein. Das Mädchen ging zurück. Nun hätten die anderen Mädchen furchtbar gern gewußt, was die Haibwaise an dem Tage erlebt habe, nachdem sie ihr den falschen Weg gezeigt hatten. Sie neckten



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sie also den ganzen Tag und suchten sie zum Lachen zu bringen. Die Halbwaise lachte aber nur mit geschlossenem Munde, so daß die anderen nicht hineinsehen konnten. Das wußte sie sechs Tage einzuhalten. Als aber am siebenten Tage die vorgeschriebene Zeit verstrichen war, brauchte eines der anderen Mädchen ihr nur das Knie zu berühren und sie lachte laut heraus. Im gleichen Augenblick fielen aber Gold und Silber aus ihrem Munde. Darauf wurden alle anderen Mädchen ihre Dienerinnen. Die eine machte Essen, die zweite holte Wasser, die dritte Holz, die vierte machte Feuer. Und so ward sie, die erst verlacht war, zuletzt die Königin aller Mädchen.

Die Zähne stutzt man heute noch so. Aber Gold und Silber fällt nicht mehr heraus.


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