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Hauffs Werke

Sechster Teil Phantasien und Skizzen Aus dem Nachlasse

Herausgegeben von

Max Drescher


Fünf bis sechs Uhr morgens.

Der dicke Mann schnarcht schrecklich; sein Kopf droht, auf die Schulter der jungen Dame zu sinken; ich bringe ihn durch einen kleinen Fußtritt zu sich selbst; er fährt auf, setzt sich zurecht, schläft wieder ein und schnarcht von neuem. Seine Bewegung hat den französischen Obrist erweckt; er sieht sich unzufrieden und stolz um. Es gefällt mir nicht, daß er eine ungeheure Dose von Horn hervorzieht und schnupft; er schläft bald wieder ein.

Die Morgenluft weht immer kälter. "Soll ich vielleicht das Fenster vorziehen? Wird es Ihnen nicht zu kalt?" fragte ich so freundlich als möglich die junge, schöne Dame und denke erst bei zu kalt" daran, daß wir längst auf französischem Boden sind und Mademoiselle kein Deutsch verstehen wird. Aber sie antwortet mit heller, wohltönender Stimme, jedoch ohne die Kapuze zu lüften: "Wenn es Ihnen selbst nicht zu kalt wird, danke ich; ich bin wohl verwahrt."

Also eine Deutsche, dachte ich; nun, um so besser, da werde ich doch sobald unsere Sprache nicht verlernen. "Ihr Nachbar, mein Fräulein," fuhr ich fort, "ist wohl etwas unbequem für Sie; der Wagen ist zu enge, als daß ein solcher Koloß mit Recht in der Mitte sitzen dürfte."

"Und doch möchte ich ihn noch weniger zum tête-à-tête," erwiderte sie.

Ich errötete beinahe über diese Artigkeit und war doch eitel genug zu fragen: "Und warum?"



Hauff_Vol_6-107 Flip arpa

"Ich denke, ein schlafender Koloß würde nicht so artig sein, auf meine Bequemlichkeit Rücksicht zu nehmen."

Ich weiß nicht, ob sie mir wirklich dadurch für ihre Sicherstellung vor den breiten Hufen des dicken Mannes danken wollte; aber ich verbeugte mich, murmelte etwas von Schuldigkeit gegen Damen und war in demselben Augenblicke wieder unmutig über mich selbst, weil sie doch vielleicht mich nicht gemeint hatte, ließ die angeknüpfte Unterhaltung fallen und suchte, wie ein gleichgültiger Reisender auszusehen, obgleich noch mancher Streifblick an dem glänzenden Auge der jungen Dame vorüberflog.