Projektseite Bullinger - Briefwechsel © Heinrich Bullinger-Stiftung
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Kapitel 

Einleitung

Wie kaum zuvor sind die reformierten Kirchen der Eidgenossenschaft 1537 von inneren Zerreißproben beherrscht -ein Geschehen, das auch im Bullinger-Briefwechsel seinen bisweilen dramatischen Ausdruck findet. Die Einmütigkeit, mit der die Vertreter der reformierten Orte und Kirchen sich noch 1536 in Basel zur Konstituierung des Ersten Helvetischen Bekenntnisses zusammengefunden haben, scheint zusehends zu zerfallen.

Theologen wie Politiker sind zunächst zuversichtlich, daß sich Luther mit ihrem Bekenntnis zufriedengeben wird. Eine ausführliche Erläuterung dazu ist ihm am 12. Januar als Antwort der reformierten Städte auf die Wittenberger Konkordienformel zugeschickt worden. Mit einer Tolerierung ihrer Position wäre, so hofft man, nicht nur die lang diskutierte Konkordie erreicht, sondern auch die Voraussetzung für die Aufnahme in den Schmalkaldischen Bund geschaffen. Die angekündigte Versammlung dieses Bundes beschäftigt die Korrespondenten in den ersten Monaten denn auch stark, wobei vor allem das Haupttraktandum des Bundestags, die Konzilsfrage, für Unruhe sorgt. Bullingers Warnung vor einem päpstlichen Ketzertribunal gibt weit verbreiteten Befürchtungen Ausdruck, und die Ablehnung des Konzils im Tagungsabschied vom 6. März wird mit Erleichterung aufgenommen.

Die Ungewißheit über die lange ausbleibende Antwort Luthers -obschon von Melanchthon im März angekündigt, sollte sie erst im Jahr darauf eintreffen -, aber auch der weiter anhaltende Vermittlungsaktivismus Bucers bringen nun in den reformierten Kirchen der Eidgenossenschaft eigene Entwicklungen in Gang, die zu deutlichen Meinungsunterschieden führen. Während etwa die Basler Theologen den Vorschlag von Konstanz wohlwollend prüfen, Luther mit der Anerkennung der "Confessio Tetrapolitana" oder gar der "Augustana"nötigenfalls entgegenzukommen, wehren sich die Berner entschieden gegen jede Abweichung vom eigenen Bekenntnisstand. Auch in der Reaktion auf Bucer differieren die Meinungen zunehmend. Seine "Retraktationen" reizen mancherorts zum Widerspruch, und in Bern wird gar über ein Bücherverbot räsonniert - ein Eifer, der in Konstanz, Basel und St. Gallen überhaupt nicht verstanden wird. Ein durch Indiskretion bekanntgewordener Brief Bucers an Luther, in dem Bullinger die Unehrlichkeit des Straßburgers zu erkennen glaubt, löst Ende März eine tiefe Vertrauenskrise aus; erst im Herbst suchen die Kontrahenten wieder das direkte Gespräch.

Weit schwerer als diese Differenzen wiegen aber die Vorgänge, welche die innere Einheit in Bern bedrohen. Gerade in jener Kirche, die eben noch unnachgiebig auf zwinglischen Positionen beharrt hat, kündigt sich im April ein Konflikt um die Sakramentslehre an, der -heftig eskalierend -Pfarrerschaft und Rat in ein bucerisches und ein antibucerisches Lager spaltet. Bullinger und seine Kollegen, von den Berner Zwinglianern bestürmt, richten

nichts aus, während Bucer die auf seinen Wunsch einberufene Sondersynode nutzt, um sich die Unterstützung seiner Konkordienpolitik durch Bern formell bescheinigen zu lassen. Durch diesen Stimmungswandel entsteht für Zürich die Gefahr konfessioneller Isolation. Das Zerwürfnis unter den Bernern ist allerdings nicht beigelegt; im Gegenteil, es findet mit der Einführung des von Bucer bearbeiteten Katechismus und mit der Entlassung von Kaspar Megander im Dezember seinen vorläufigen Höhepunkt.

Naturgemäß bildet die Korrespondenz zwischen Zürich, Basel, Bern, St. Gallen und Konstanz das Schwergewicht dieses Briefjahrgangs. Die Hauptteilnehmer an all diesen Diskussionen sind weitgehend die alten Stammkorrespondenten: Der Briefwechsel mit Oswald Myconius in Basel, Kaspar Megander in Bern, Joachim Vadian in St. Gallen und Johannes Zwick in Konstanz macht fast die Hälfte der überlieferten Briefe aus.

Über die Hauptthemen hinaus schillert der Briefwechsel in seiner gewohnten Vielfalt. Zwar treten politische (etwa interkonfessionelle) Probleme der Eidgenossenschaft in diesem Briefjahrgang etwas zurück, und auch das europäische Geschehen spiegelt sich nur marginal in den verstreuten Nachrichten zu Kaiser, Reich, Türkengefahr usw. Aber mehr denn je stehen die Entwicklungen in der reformierten Welt im Vordergrund - neue Räume tun sich auf, ferne rücken näher.

In der Beziehung zwischen Zürich und Genf wird 1537 zum Schlüsseljahr, denn erstmals tritt Johannes Calvin mit Bullinger in Kontakt. Anlaß sind Anschuldigungen von Pierre Caroli, über die Bullinger, vorerst wenig interessiert, bereits von Bern aus informiert worden ist; den Genfern liegt sichtlich daran, sich mit den Zürchern direkt ins Einvernehmen zu setzen. Die Englandreise von Nicholas Partridge und Rudolf Gwalther, denen sich auf der Rückfahrt mehrere englische Studenten angeschlossen haben, läßt wichtige Freundschaften entstehen; Bullinger nutzt die Gelegenheit, um mit Erzbischof Cranmer in briefliche Verbindung zu treten. Mit Graubünden verstärkt sich die Beziehung, denn nach Johannes Comander findet Bullinger in Philipp Gallicius, dem späteren Pfarrer an der Regulakirche in Chur, einen regen Briefpartner. Der eifrige Peter Schnyder, 1536 als Pfarrer in Laufen abgesetzt, vermittelt nun engagierte Berichte und politische Stimmungsbilder aus Biel. Das Verhältnis zu Württemberg bleibt belastet, suchen doch immer wieder Zwinglianer aus dem Herzogtum Hilfe in der Eidgenossenschaft; der Uracher "Götzentag" vom 15. September, an dem die Beseitigung der Bilder beschlossen wird - ein Erfolg Ambrosius Blarers - wird jedoch auch für Bullinger zum Lichtblick. Alte und neue Gesinnungsfreunde gelangen aus der Ferne brieflich an ihn, z. B. Heinrich Sellarius aus Frankfurt a. M. sowie Bullingers alter Studienfreund Dietrich Bitter und ihr gemeinsamer Lehrer Johannes Caesarius aus Köln. Und zweifellos mit Genugtuung nimmt Bullinger zur Kenntnis, daß seine Werke eine höchst interessierte Leserschaft in der entlegenen Oberlausitz und im angrenzenden Böhmen finden.

Auch die Verwaltungsarbeiten für Kirche und Schule hinterlassen ihre Spuren; zahlreiche Anfragen und Zuschriften betreffen die Besetzung von Pfarrstellen. Bullinger, dem Bildung und Ausbildung wichtig sind, ist stets um die Förderung junger Zürcher - Studenten wie Lehrlinge - bemüht, achtet aber auch darauf, daß ihre Heimatstadt möglichst bald von den erworbenen Kenntnissen profitieren kann. Wie begehrt und selten fähige Lehrkräfte sind, erfährt er bei der Berufung des in Basel unterrichtenden Zürcher Stipendiaten Johannes Fries an die Fraumünsterschule, da die Basler den vielversprechenden Gelehrten höchst ungern ziehen lassen.

Bullinger erscheint in den Briefen dieses Jahres als angesehene Persönlichkeit, die aus dem Schatten des Vorgängers herausgewachsen ist. Er ist gefragt als Berater, als Person mit Einfluß und Beziehungen. Herzog Ulrich von Württemberg bittet ihn, seinem Gesandten, der in politischer Mission unterwegs ist, die Türen in Bern zu öffnen, Zürcher Ratsherren bedienen sich seiner Kontakte zum Konstanzer Bürgermeister Thomas Blarer, um das Vorgehen gegenüber dem Domstift zu koordinieren, usw. Ahnliches gilt auch im privaten Bereich, wie der Fall von Heinrich Wiederkehr, einem vom Landvogt in Baden bestraften Verwandten Bullingers, beispielhaft zeigt. Bullinger kann zwar kein Verständnis für den straffälligen Verwandten, wohl aber eine Reduktion der Buße erwirken. Der kurze Schriftwechsel mit Landvogt Schmid erlaubt uns gleichzeitig einen guten Einblick in die Praxis der Rechtspflege.

Der vorliegende Briefband 1537 birgt eine Fülle von Daten zu Personen und Themen eines kirchengeschichtlich äußerst bewegten Zeitabschnitts, er zeigt aber auch deutlich, daß der noch junge Zürcher Kirchenvorsteher zu einer anerkannten und prägenden Autorität des Protestantismus im schweizerisch-oberdeutschen Raum heranwächst.

Hans Ulrich Bächtold ·Rainer Henrich