Projektseite Bullinger - Briefwechsel © Heinrich Bullinger-Stiftung
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[59]

Hans Vogler an
Bullinger
[Hundwil] ,
24. Januar 1532 2

Autograph: Zürich StA, E II 351,149. Siegelspur. —Ungedruckt

Hofft, Bullinger bald persönlich kennenzulernen. Warnt eindringlich vor der Hinterhältigkeit Karlstadts. Äußert sich zuversichtlich über seine eigene, jetzt noch schwierige Lage. Grüße. Hans Briner wird noch persönlich bei Bullinger vorbeikommen.

Der herr aller stercky stercke uns zu diser zitt der nott und mere den globen in unns 3 . Amen.

O Bulliger, mir dis zitt ansechens 4 onbekantt, so eß gott zulast, als sinem ellenden werchzüg, sol ich üch sechen 5 . Zu diser zitt wil ich üch, wie ich vor gott schuldig bin und das on falsch, so war ich der säligkait beger, also nementz 6 an, vor falschen brudern und gaisternn 7 , die alle crütz flüchend 8 und nach zitlichem rum, glüsten und gytz 9 stellend 10 und, so inen der stab 11 in die hend wirtt oder inen nit gat nach irn glüsten, das crütz komptt, us irn toben 12 köpffen -wie ogenschinlich ist - wütend gift uswerfend 13 , lügend über die, so sy gliept habend, und vorhin 14 vollen glisender 15 , falscher lieby sind, die aber, gott syg lob, usbricht an allen ortten; und warlich kain bruderlich lieb in inen steckt, sonder sich inkoffend 16 , bys sy gefrissend 17 . O Karolstat oder Bodenstain 18 , gott wirtt in treffen und offnen 19 etc.

f ex animo am unteren Rand halb abgeschnitten.
1 Vogler befand sich zu dieser Zeit als Flüchtling in Hundwil (Kt. Appenzell a. Rh.), s. das Familienbuch der Amtmänner Hans Vogler des Älteren und des Jüngeren, Zürich ZB, Ms S 318, S. 255.
2 Voglers Aufenthaltsort und der Umstand, daß er Bullinger noch nicht persönlich kennt (s. Z. 3), deuten mit Sicherheit auf das Jahr 1532. Voglers eigene Jahresangabe ist demnach ein klarer Schreibfehler.
3 Vgl. Luk 17,5.
4 von Angesicht, persönlich.
5 Vogler kam im Laufe des Frühjahrs 1532 nach Zürich, in dessen Umgebung er sich dann länger als ein Jahr aufhielt.
6 nehmt es an, glaubt es.
7 Ein in der langen Periode vergessenes «warnen» ist zu ergänzen.
8 fliehen, meiden.
9 Begehrlichkeit.
10 trachten.
11 der Gerichtsstab, das Szepter als Zeichen der Macht (vgl. SI X 1022f).
12 verwirrten, geistesgestörten, tollen (SI XII 67f).
13 ausspeien (vgl. Grimm I 1016).
14 räumlich: nach außen (vgl. SI II 1343f).
15 heuchlerischer, verstellter (SI II 603f).
16 sich bei jemandem einschmeicheln, in Gunst setzen (SI III 172).
17 bis sie fertig sind mit Fressen, bis sie ausgefressen haben.
18 Zur Auseinandersetzung zwischen Karlstadt und Vogler s. oben S. 33,10-34,11.
19 anzeigen, ans Licht bringen (SI I 114).

Daß ferstond 20 ir, lieber bruder, wie üch Lienhardy Wirtt 21 , der getrüw, war, guter zügny 22 üch fertruwenß wis ettlich artickel berichten, und ich in harum zu üch abgefertigt hab zu warnen. Von dem wellend ir ja ja halten 23 , dann min beger, och sin und andrer, alle bruder zu warnen, sonderß och ain frome statt Zürych etc. Der herr waist eß, ich red on hass. Warlich, warlich, gomend üch 24 . O Martine Luther, du hast in fil weg on zwifel fil müg ghept! 25

Gliepter Bulliger, ich bin jetzemal ain pandit 26 angesechen, aber hoff, nit lang. Stat och - gott sy lob -wol, doch mitt fätterlicher fersuchung 27 . Grüssend mir den onbekanten schulthais von Bremgarten 28 und ander, so ir fertruwend. Gott erhalte uns! Waß nüws oder wie es stand etc. beger ich truwenß 29 . Min herr und bruder, Doctor Fadian 30 , hat mir zu gschriben 31 , daß fergangen 32 Strasburg, Ulm, Costentz, Basel - als im gsagt - zu Bern 33 gsin etc.

20 vernehmt, erfahrt (SI XI 655f).
21 Leonhard Hospinian (Wirth), um 1508/10-1564, war der jüngste Sohn von Hans Wirth, dem Untervogt in Stammheim, der 1524 im Anschluß an den Ittingersturm hingerichtet wurde. Hospinian begann seine Studien 1517 in Wien, lebte dann um 1521 bei Zwingli und studierte weiter in Freiburg i. Br. und Wittenberg. 1524-1528 war er Stadtschreiber in Stein am Rhein, hielt sich 1532 in St. Gallen und Konstanz auf (s. unten Nr. 83), kam als Lateinschulmeister nach Kempten (Allgäu) und wirkte seit 1537 als Präzeptor einiger Konstanzer in Basel. Später wurde er da Präfekt des unteren Kollegiums. 1539 berief ihn Graf Georg von Württemberg als Lehrer nach Reichenweier (Elsaß). Nach Basel zurückgekehrt heiratete er 1541 Anna Meyer, die Tochter des Bürgermeisters Jakob Meyer zum Hirzen, übernahm die Druckerei von Valentin Curio und Johann Walder und erhielt das Basler Bürgerrecht. Nach einem kurzen Aufenthalt als Lehrer in Brugg (Ende 1546-1548) ging Hospinian nochmals nach Reichenweier, wo er als Schaffner amtete. 1557 wurde er Kartaus-Schaffner in Basel. Wann sich Bullinger und Hospinian kennenlernten, ist ungewiß. Bullinger überließ ihm zeitweilig seine Schrift «De ratione studii» (s. unten Nr. 83), und aus ihrer Korrespondenz sind zwei Briefe Hospinians erhalten. Vogler, zu dem Hospinian offenbar recht engen Kontakt hatte, war 1539 an dessen Berufung nach Reichenweier direkt beteiligt (Vadian BW V 557). — Mit Leonhard Wirth aus Lichtensteig (s. unten S. 254, Anm. 5) besteht anscheinend keine Beziehung. — Lit.: Vadian BW, Reg.; Z VII. VIII. X, Reg.; Amerbach, Korr. V 171f. VI 51, Anm. 1. VII 162f, Anm. 6; Alfred Farner, Geschichte der Kirchgemeinde Stammheim, Zürich 1911, S. 116f.155; Benzing, Buchdrucker 35.
22 der ein aufrichtiges, wahres und gutes Zeugnis geben wird.
23 Glauben schenken (vgl. SI II 1225).
24 hütet euch.
25 du hast in mancher Weise ohne Zweifel viel Mühe gehabt. — Zum Konflikt zwischen Luther und Karlstadt s. Barge passim.
26 Verbannter, Vertriebener (SI IV 1282).
27 wenn auch mit göttlicher Heimsuchung (vgl. SI VII 224).
28 Hans Mutschli, der auch nach 1531 in Bremgarten wohnen blieb und als treuer Anhänger der Reformation unter der Rekatholisierung der Stadt zu leiden hatte, s. HBBW I 204, Anm. 17 und unten seine Briefe Nr. 71 und 104.
29 wünsche ich, daß man mich vertraulich benachrichtigt.
30 Joachim Vadian (von Watt), 1484-1551, Reformator und seit 1526 Bürgermeister der Stadt St. Gallen. Mit Bullinger trat Vadian schon 1524 in Verbindung (HBD 9,1-3). Nach der politischen Wende von 1531 gestalteten sich die Beziehungen zwischen den beiden Reformatoren zusehends enger, was sich auch in ihrer gegenseitigen regen Korrespondenz zeigt. Vadian widmete Bullinger 1534 seine Epitome (HBBibl II 1002), Bullinger gab 1542 Vadians Anakephalaiosis heraus (HBBibl I 706f). — Lit.: Vadian BW; Vadian DHS; Traugott Schieß, Bullingers Briefwechsel mit Vadian, in: JSG XXXI, 1906, 23-68; Vadian-Studien. Untersuchungen und Texte, hg. vom historischen Verein des Kantons St. Gallen, St. Gallen 1945ff; Näf, Vadian I und II; Conradin Bonorand, Joachim Vadian und die Täufer, in: SBAG XI, 1953, 43-72; Feller-Bonjour I 189-196; Otto Erich Straßer, in: RGG VI 1223; Oskar Vasella, in: LThK X 590f; HBLS VII 429.
31 Vogler stand in persönlicher und brieflicher Verbindung mit Vadian. Ein Brief Vadians an ihn aus dieser Zeit ist allerdings nicht erhalten.
32 kürzlich.
33 Wolfgang Capito aus Straßburg nahm an der Berner Synode teil, die am 9. Januar eröffnet

Bittend gott für mich und unß alle. Ich wolt von des gaistz 34 wegen minem hernn und bruder, dem statschriber 35 , gschriben han und gewarnt; so wais ich nit weders 36 wäger 37 , aber was üch und Lienharten och maister Hans Briner 38 , dem ich och by 39 geschriben 40 , das thund, als obs hierin begriffen 41 , och andre.

Behüt üch gott, lieber Bulliger, und ferlich üch, sin wort recht zu fürnn, zu buwen. Amen.

In welchem hus ir sind, wondert 42 mich.

Actum im land Appenzell, uff mittwoch nach Sebastiani anno 31 43 jar.

Uwer armer diener Hans Vogler.

Um kürtze willen hab ich maister Hans Briner uf dis gschrift gewisen, by üch zu hörn, ze warnen etc.

[Adresse auf der Rückseite:] An min geliepttenn im hernn, Hainrichen Bullinger, prediger der gemain der statt Zürych, minem günstigen herrenn etc. worden war (vgl. oben Nr. 56). Ob Abgesandte aus den anderen drei Städten auch zu diesem Anlaß in Bern waren, ist nicht bekannt.

34 Möglicherweise ist damit Karlstadt gemeint, der als unruhiger Geist und hochmütiger Mensch qualifiziert wird; zum Ausdruck s. auch SI II 488f.
35 Als Stadtschreiber amtete in Zürich seit 1529 Werner Beyel (Bygel), um 1493-1545, aus Sennheim (Elsaß). In welcher Beziehung er zu Vogler stand, ist nicht bekannt. — Lit.: Z X 1f; Basel, Matrikel I 288; HBLS II 219.
36 welches von beiden (Grimm XIII 2834).
37 besser (Grimm XIII 481).
38 Hans Briner, gest. 1537, war Pfarrer in
Weißlingen (Kt. Zürich). Er nahm 1528 an der Berner Disputation teil (ABernerRef 1466). Nach der Schlacht bei Kappel 1531 hielt er vor den geschlagenen Zürcher Truppen eine Ermunterungsrede (HBRG III 174). 1536 kam Briner als Pfarrer nach Oberwinterthur. Von wo Vogler ihn kannte, ist nicht klar. — Lit.: AZürcherRef 786.1391.1714, S. 732; Pfarrerbuch 219.
39 zugleich, ebenfalls (SI IV 907).
40 Ein Brief Voglers an Briner ist nicht erhalten. — In der Periode wäre hier etwa zu ergänzen «gut dünkt,».
41 enthalten (SI II 718).
42 nimmt mich wunder, möchte ich wissen.
43 Zur Jahrzahl s. oben Anm. 2.