[274]

Bullinger an
Oswald Myconius
Zürich,
18. Oktober 1533

Autograph: Zürich StA, E II 342, 15r.-v. Siegelspur. -Gedruckt: Füssli I 106-108; Teilübersetzung: Rudolf; Aussöhnungsversuch 509

Bullinger hat Myconius' Brief [Nr. 270]erhalten und freut sich über dessen Liebe für ihn und die Kirche. Bullinger und Jud mußten sich wegen ihrer Kritik an der Verbrüderung Zürichs mit den V Orten und an der allgemeinen Trunksucht vor dem Rat verantworten, wurden jedoch freigesprochen und in ihrem Predigtamt bestätigt. Die Lage ist gefährlich: Während die Katholiken die Reformierten verfolgen, denken die übrigen Reformierten nur an ihr eigenes Interesse. Die V Orte sind geldgierig und auch untereinander uneinig. Sie wollen nicht auf die Mahnung der Zürcher hören, die sie vor einem Bündnis mit fremden Herrschern warnen. Die Zürcher verabscheuen das fremde Gold; die strengen Gesetze gegen das Pensionenwesen sind weiter in Kraft. Viele wollen ein Bündnis mit Frankreich gegen den Papst. Karlstadt entsprach dem Wunsch von Myconius, Bullinger ist in der Angelegenheit zuversichtlich.

Gratiam et vitae innocentiam a domino.

Literas tuas 1 charitate plenas accepi et dicere nequeo, quanto cum gaudio, quod viderem sincerum erga me animum tuum indies magis magisque incalescere, denique et insignem erga ecclesias curam subinde grandescere.

Vigilamus sane, id quod mones 2 , quantum possumus et quantum gratiae contulit dominus, adeo ut hisce diebus in ius vocarint nos impii aliquot, quod Leo 3 et ego paulo acerbius sodalitium illud cum Immontanis 4 , crapulam et ebrietatem accusaveramus 5 . Sed displicuit senatui impiorum conatus, hunc etiam represserit, quamquam non ita, ut dignum alias erat, et nos in administratione verbi in accusatione scelerum libere iussit pergere 6 . Adversarii nostri erant Liechti 7 , Krieg 8 , Beltzinger 9 , Boßhart 10 ,

1 Oben Nr. 270, S. 200f.
2 Siehe oben S. 201, 21-23.
3 Leo Jud.
4 Zu dem für viele allzu freundlichen Empfang einer Anzahl Innerschweizer an der Zürcher Kirchweih vom 11. September s. oben S. 201, Anm. 7.
5 Leo Jud und Bullinger hatten ihre Kritik offenbar im Anschluß an jene Kirchweih in öffentlichen Predigten geäußert.
6 Näheres zur Anklage des Rates ist nicht bekannt. Erhalten ist das vom 15. Oktober datierte Autograph von Bullingers Verteidigung (Zürich ZB, Ms S 34, 67), worin er für die Freiheit, ja die Pflicht des Predigers eintritt, Laster öffentlich zu kritisieren (teilweise zitiert in Pestalozzi 112); zur ganzen Angelegenheit s. noch Hans Ulrich Bächtold, Heinrich Bullinger vor dem Rat. Zur Gestaltung
und Verwaltung des Zürcher Staatswesens in den Jahren 1531 bis 1575, Bern und Frankfurt a. M. 1982. -ZBRG XII, S. 38f.
7 Wohl Thias Liechti, Wirt zum Schwert, dem zusammen mit Peter Füßli im Frühjahr 1532 vorgeworfen worden war, in Einsiedeln zur Messe gegangen zu sein (AZürcherRef
8 Jakob Krieg, gest. 1569, Achtzehner der Konstaffel im Großen Rat, 1530 bischöflich konstanzischer Amtmann in Zürich, war ein Gegner der Reformation. -Lit.: AZürcherRef 813. 1723; Jacob 66. 108; HBLS IV 546.
9 Vielleicht Heinrich Belzinger, gest. 1550, seit 1536 Mitglied des Stadtgerichts, 1540 Amtmann zu Stein am Rhein, s. HBLS II 95.
10 Unbekannt, wer aus dieser Familie gemeint sein könnte.

Füßly 11 , Boledt 12 , Holtzhalb 13 etc. Videmus sane nobis omnibus nescio quid excidii impendere, imo calamitosam calamitatem propiorem esse credo, quam quisquam credat. Frigide quidem nos suscipimus verbum domini. Adversarii nimis ardenter persequuntur, et nos nostris compendiis charitate neglecta strenue invigilamus. Adversarii auro patriam vendunt, principes artibus deplumant, voluptatibus inserviunt, atque adeo utrinque peccatur, ut credam propediem omnes una perituros, etsi interim deo iusto non diffidam, quin suos sit ex tentatione erepturus 14 . Immontani adeo impie vivunt, ut nesciam, si possit inveniri profligatius vivendi genus. Adeo inter se dissident et factionibus auro partis tumultuantur 15 , ut credam prae foribus astare vindictam 16 . Monitiones nostrorum contemnunt. Monent enim nostri a foederibus abstineant et principum ambitiones excutiant a cervicibus 17 . Sed frustra omnia 18 . Caeterum utcunque desperent multi de nobis, ego tamen non despero. Aurum istorum utcunque charum sit, illud tamen plerique nostrorum horrent, adeoque capitale adhuc permanet vel quicquam accepisse vel principum stipendia sequutum esse 19 . Conabimur item velis ac remis 20 istorum obniti studiis, qui adversus pontificem vellent nos regi foederari. Nihil enim aliud video hodie apud omnes regnare quam imposturam, corruptionem, avaritiam, iniquitatem.

Vive et vale et semper ora dominum ecclesiae suae subveniat.

Tiguri, 18. octobris 1533.

Heinrychus tuus. 15v.

|| Quae mandasti Carolstadio 21 , exposuit. Caeterum non vereor ea parte periculum. Si autem haec res omnino Martis alea sorteve 22 dirimenda, secus incipi nollem. Sed spero nihil tale futurum. Interim tamen fidis quibusdam credidi hoc, quicquid est negotii, etc.

11 Peter (III.) Füßli, 1482-1548, Glocken- und Stückgießer, seit 1518 Mitglied des Großen Rats, nahm an den Mailänder Feldzügen teil und war 1521 in päpstlichem Solddienst. 1523 unternahm er eine Pilgerfahrt nach Jerusalem. Obwohl er der Reformation abgeneigt war, kämpfte er loyal in der Schlacht bei Kappel, wo er das Zürcher Geschütz kommandierte. Über den Krieg verfaßte er einen eigenen Bericht. In der Fastenzeit 1532 besuchte er die Messe in Einsiedeln, worauf er vom Rat ermahnt wurde, in Zürich zur Predigt zu gehen und sich von Bullinger unterweisen zu lassen. - Lit.: AZürcherRef 1844. 1846; Peter Füesslis Jerusalemfahrt 1523 und Brief über den Fall von Rhodos, hg. v. Leza M. Usser, Zürich 1982. - Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich, Bd. 50, Heft 3 146. Njbl.); Peter Füeßli's Beschreibung des Kappelerkrieges, in: ZTB 1889, NF, Jg. 12, S. 151-212; Georg Gerig, Reisläufer und Pensionenherren in Zürich 1519-1532. Ein Beitrag zur Kenntnis der Kräfte, welche der Reformation widerstrebten, Zürich 1947. - Schweizer Studien zur Geschichtswissenschaft, NF 12, Reg.; Jacob 105. 110. 116; HBLS III 356.
12 Unbekannt.
13 Ungewiß, ob es sich um Leonhard (s. oben
S. 104, Anm. 2) oder dessen Onkel Hans Holzhalb handelt. Letzterer, gest. 1553, gehörte seit 1529 dem Kleinen Rat an, seit 1531 als Zunftmeister zum Widder, s. HBLS IV 280.
14 Vgl. 2Petr 2, 9.
15 Zur Uneinigkeit unter den V Orten siehe unten S. z43f, Anm. 21.
16 Vgl. Jak 5, 9.
17 Zürich hatte an der Badener Tagsatzung vom 30. September 1533 die V Orte gemahnt, auf das geplante Bündnis mit dem Papst, dem Kaiser und dem Herzog von Mailand zu verzichten, s. EA IV/1c 160f f.
18 Zur später erfolgten Antwort der V Orte an Zürich s. EA IV/1c 224 r. und 263 u.
19 Zur Abschaffung des Pensionenwesens und zur strengen Durchführung des Reislaufverbots in Zürich s. Farner III 222-236 und IV 94-102. Siehe auch oben S. 159f, 12-15 und 164, 3-6 die Befürchtungen über französische Soldgeldauszahlungen im Sommer 1533.
20 mit aller Macht, aus ganzer Kraft, s. Adagia, 1, 4, 18 (LB II 118).
21 Um was es sich dabei handelt, ließ sich nicht nachweisen.
22 Vgl. Adagia, 1, 4, 32 (LB II 162f); Otto 12f,

[Adresse darunter:] Domino Osvaldo Myconio, Basileiensis ecclesiae antistiti vigilantissimo, suo in domino charissimo fratri.

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