[2023]

[Guillaume Farel] an
Bullinger
[Neuenburg,
um 28. Oktober 1544]

Original a : Zürich StA, E II 377, 2701 (Siegelspur)

Die Neuenburger "Classe". 2 Die Ermahnung und förmliche Zurechtweisung wird folgendermaßen gehandhabt: Der zu Ermahnende muss sich zurückziehen; dann erkundigt sich der Dekan bei den Nachbarn und Verwandten, ob ihnen ein Verstoß dieses Bruders [Pfarrers] gegen die Kirche oder den Pfarrdienst durch ihn oder dessen Familie bekannt ist; dann werden die anderen befragt, welche Ermahnung sie für angemessen halten; darauf wird der Bruder [Pfarrer] zurückgerufen und kraft des Rats und Urteils aller freundlich ermahnt, seinen Dienst fromm zu verrichten und zum Aufbau der Kirche beizutragen. Der Widersprechende [Jean Chaponneau]der "Classe"behauptet: 1. Brüderliche Zurechtweisung ist ein Akt der Liebe und fällt unter das göttliche Gebot, von dem niemand ausgenommen werden darf 2. Da die Vorschrift der brüderlichen Zurechtweisung verbindlich ist, ist diese nicht an einen gewissen Zeitpunkt [wie etwa das Treffen des "Colloque" oder der "Classe"] gebunden. 3. Die förmliche Zurechtweisung, dessen Ziel die Besserung des sündigen Bruders ist, darf also nicht nur aufgeschoben, sondern manchmal sogar aufgehoben werden. 4. Gemäß dem Gebot Christi, "Wenn dein Bruder gegen dich gesündigt hat" usw. [Mt 18, 15], muss Ermahnung im Verborgenen einer öffentlichen Denunziation vorangehen. 5. Wer dem Bruder und sogar einem, dessen Sünde der Öffentlichkeit bekannt ist, in christlicher Liebe zugetan ist, handelt klug, wenn er ihn zunächst heimlich ermahnt, dann, falls dieser nicht hört, dies in Anwesenheit von ein bis zwei Zeugen wiederholt, und erst dann den Starrsinigen der Gemeinde

a Nur die Abschnittsüberschriften und der Schluss mit der Adresse stammen von Farels Hand. Der Schreiber des übrigen Textes ist unbekannt.
1 Begleitbrief zum Rundschreiben der Neuenburger Kirche vom 28. Oktober 1544 (oben Nr. 2022). -Der Brief Farels könnte
auch später verfasst worden sein; s. unten Nr. 2046 mit Anm. 32.
2 Die "Classe"ist der viermal im Jahr tagende Ausschuss aller Pfarrer eines größeren Gebiets. Innerhalb dieses Gebiets treffen sich alle Monate die "Colloques", der Ausschuss der Pfarrer eines kleineren Teils dieses Gebiets.

anzeigt. 6. Dieser darf nicht irgendeiner Gemeinde angezeigt werden, sondern nur derjenigen, deren Mitglied er ist. [Von Farels Hand:] Die Brüder [Pfarrer] sagen, dass die von ihnen ausgeübte Berichtigung fromm und nützlich ist, damit die Kirche und die Lehre nicht verletzt, sondern reiner bewahrt werden. Der Gegner [Chaponneau] behauptet, dass die ausgeübte Zensur im Widerspruch zum Wort des Herrn stehe, indes ein jeder Pfarrer zuerst persönlich zu ermahnen sei, dann vor dem Volk, das er unterweist, und niemals in der Versammlung der lehrenden Brüder [Pfarrer]; man muss sich wundern, dass das, was er beobachtet hat, nicht zu einem Sinneswandel bei ihm führt, da es ja zwei [Pfarrer, Claude de Glant und Alexandre Le Bel]3 gab, die sich schlecht benahmen und weder den Ermahnungen der Brüder [Pfarrer] noch dem Befehl des Magistrats gehorchen wollten, weil sie auf das von ihnen verblendete Volk zählten, welches jetzt das Unheil hasst, das es zuvor in verderblicher Liebe herbeiwünschte.

[Gedruckt: CO XI 760f, Nr. 580; Corr. des réformateurs IX 349f, Nr. 1403.]

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