Einleitung

Der Briefwechsel des Jahres 1538 ist von den Bemühungen gekennzeichnet, schwelende innerkirchliche Konflikte beizulegen. Es galt, die im Vorjahr aufgebrochene Kraftprobe zwischen Anhängern Bucers und radikalen Zwinglianern in Bern zu bewältigen, und im Ringen mit Luther um das rechte Abendmahlsverständnis, das schon seit Jahren anhielt, schien eine einvernehmliche Lösung so nah wie noch nie zu sein.

Die Briefe der ersten zwei Monate spiegeln sehr anschaulich den Verlauf des Berner Streits um den von Bucer abgeänderten Katechismus Meganders, vom Scheitern eines Vorstoßes aus Zürich über die Besänftigung der aufgebrachten Landpfarrer bis zur allmählichen Beruhigung der Lage nach dem erzwungenen Abgang Meganders. Für Bullinger ist offensichtlich, daß Bucer die Berner Kirche gespalten hat, außerdem ist er immer noch erbittert über dessen Brief an Luther vom Vorjahr. In einem langen und pointierten - von der Forschung bisher kaum beachteten -Rechtfertigungsschreiben versucht Bucer im Februar, die massiven Vorwürfe des Zürcher Kirchenvorstehers Punkt für Punkt zu entkräften; Bullinger bleibt jedoch unbeeindruckt.

Nachdem die lange erwartete Antwort Luthers an die reformierten Städte der Eidgenossenschaft im Januar eingetroffen ist, wachsen im Umfeld Bullingers die Hoffnungen auf eine Konkordie; er selbst hält die Spaltung für überwunden, falls sich die Gegenseite definitiv mit dem Ersten Helvetischen Bekenntnis zufriedengibt, und erklärt weitere Vermittlung für unnötig. Inzwischen ist er nun endgültig der führende Kirchenmann der Schweizer Reformierten - eine Stellung, die ihm übrigens Capito in einem Brief ausdrücklich zuerkennt. An den Beratungen in Zürich über eine gemeinsame Antwort an Luther setzt er denn auch seine Haltung mit Hilfe der Bieler gegen Bucer weitgehend durch. Trotz wohlwollender Aufnahme dieses Antwortschreibens am Bundestag der Schmalkaldener machen die Briefe Luthers an Bullinger und an die eidgenössischen Städte bald deutlich, daß man noch nicht am Ziel angelangt ist. Zwar versucht Bullinger im August/September, Melanchthon und Luther davon zu überzeugen, daß die verbliebenen Vorbehalte durch freundschaftlichen Briefwechsel ausgeräumt werden könnten, doch fortan ruht die Sache und findet bis zum Jahresende kaum noch Erwähnung.

Die Diskussionen über diese drängenden Fragen werden vor allem von den altbekannten Stammkorrespondenten Bullingers aus den oberdeutschschweizerischen Städten ausgetragen. Aus Bern sind es die Zwinglianer Megander und Rhellikan, der taktierende Ritter sowie Peter Kunz, der trotz seiner bucerfreundlichen Haltung Kontakt zu Bullinger sucht, aus Straßburg der unermüdlich vermittelnde Bucer und sein Kollege Capito, aus Basel, St. Gallen und Konstanz Myconius und Grynäus sowie Vadian und Zwick, die in unterschiedlicher Weise zwischen Bullinger und Bucer moderieren und Polarisierungen zu entschärfen suchen.

Neben diesen beiden prägenden Entwicklungen treten immer wieder auch andere Beziehungsfelder in den Vordergrund. Die im Vorjahr erschlossenen Räume Genf und England bleiben im Blickfeld Bullingers. Calvin und Farel liegt angesichts ihres getrübten Verhältnisses zur Berner Kirche viel daran, Rückendeckung aus Zürich zu erhalten. Bullinger intensiviert systematisch seine Beziehungen zu England; sein Briefwechsel mit englischen Studenten auf dem Kontinent dehnt sich zunehmend auf die Insel selbst aus, wo in diesem Jahr bedeutende Reformschritte vollzogen werden. Und im März widmet er sein Buch "De scripturae sanctae authoritate" König Heinrich VIII., ein Vorstoß, der ihm hohes Ansehen in einflußreichen Kreisen Englands eingetragen haben soll.

Die Beziehungen zu Oberschwaben werden dominiert vom Briefwechsel mit Martin Frecht in Ulm, der in seiner erbitterten Auseinandersetzung mit den Spiritualisten Franck und Schwenckfeld bei Bullinger Beistand sucht. Aus Württemberg ist - außer der unfreundlichen Entlassung Blarers durch den Herzog - nur wenig zu vernehmen. Aus den übrigen Teilen des Reichs melden sich sporadisch alte und neue Briefpartner: Pistorius und Melander etwa informieren über kirchliche Zustände in Hessen, Stadtschreiber Pergener in Zittau ist weiterhin erpicht auf die Schriften der Zürcher, und aus dem oberelsässischen Raum erreicht Bullinger ein ebenso materialreicher wie vertraulicher Brief seines Freundes Vogler.

Die Themenvielfalt auch dieses Briefjahrgangs ist beachtlich. Die Schreiben enthalten Informationen unterschiedlichster Art und Bedeutung; von den großen Dingen ist ebenso die Rede wie von vielen kleinen. Neben den Nachrichten über politische Vorgänge, die Europa bewegen, etwa die Bündnispolitik des Schmalkaldischen Bundes oder die Eroberung des Fürstentums Moldau durch die Türken, findet sich Alltägliches, Familiäres und Persönliches. Bullinger erhält Glückwünsche zur Geburt seines Sohnes, wird gebeten, ein Stipendium zu erwirken, oder soll einem Aussätzigen zu einem medizinischen Gutachten verhelfen. Zahlreich sind die Empfehlungen und Bitten zugunsten von stellenlosen Pfarrern und Lehrern.

Eine Briefgattung, die in den folgenden Jahren eine wichtige Rolle spielen wird, ist in diesem Band mit elf Schreiben Rudolf Gwalthers erstmals prominent vertreten, nämlich der Studentenbrief. Es sind Rapporte des fleißigen Schülers, der seinem Förderer gefallen will. Sie zeichnen ein lebendiges Bild vom Studentenleben in der Fremde, spiegeln aber auch, wie sehr sich Bullinger um die Belange der Ausbildung kümmert und wie sorgfältig er die finanziellen Dinge im Auge behält. Da sich Gwalthers Briefe im letzten Drittel des Jahres häufen, während die übrige Korrespondenz weiter abnimmt, läßt sich an den Briefen dieses Jahrgangs eine bemerkenswerte Verschiebung des thematischen Schwerpunkts beobachten.

Hans Ulrich Bächtold . Rainer Henrich

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Bullinger - Briefwechsel © Heinrich Bullinger-Stiftung